12. Sharjah Biennale 2015: Zeitreisen

17. Jul. 2015 in Biennalen

Der Nahe Osten ist durch die Tagespresse als Konfliktregion abgestempelt. In der medialen Simplifizierung geht dabei leicht verloren, dass diese Region kulturell facettenreich und höchst faszinierend ist – in der zeitgenössischen Kunst, aber auch im Blick zurück in die Geschichte. Statt dem Krisen-Fokus zu folgen, konzentriert sich die diesjährige 12. Sharjah Biennale ganz auf das kulturelle Potential der Region. Wie schauen wir zurück, welche Brücken können wir zwischen Historischem und Gegenwärtigem bauen, wo beginnt, wo endet Gegenwart, welche Verknüpfungen sind für die Zukunft sinnvoll? Mit diesen Fragen hat die Kuratorin Eungie Joo ein weit offenes Feld vorgegeben, das die eingeladenen KünstlerInnen zu außerordentlichen Beiträgen inspirierte. Eindrücklicher als in den bisherigen Editionen erhalten darin heuer Wind, Wüste, Sonne eine überraschende Aufmerksamkeit – subversiv, poetisch, politisch.
Doch zuerst ein kurzer Rückblick: Sharjah, das ist das kleine, eine halbe Autostunde entfernte Nachbaremirat von Dubai. Bereits in den 1960er Jahren entschied der Herrscher Sheik Sultan Bin Mohammad Al Qasimi, Sharjah durch die Erhaltung von historischen Bauten zu einem kulturellen Zentrum der Emirate auszubauen. 1980 unterstützte er die Gründung der Emirates Fine Arts Society, gründete 1993 die Sharjah Biennale. Anfangs mit lokalem Schwerpunkt, übernahm seine Tochter Sheikha Hoor Al-Qasimi mit der 6. Ausgabe 2003 die Leitung. Seither werden alle zwei Jahre internationale Kuratoren eingeladen und die Ausstellungsflächen kontinuierlich erweitert. Im Rahmen der von ihr gegründeten Sharjah Arts Foundation (SAF) wird die  Renovierung bzw. Rekonstruierung der Altstadt weitergeführt und inmitten der historischen Häuser die SAF Art Spaces gebaut: white cube-Ausstellungsräume mit perfekten klimatischen Bedingungen.

In diesem Ensemble traditioneller und neuer Räume findet heuer die 12. Sharjah Biennale statt (bis zum 5. Juni 2015), rund um den Calligraphy Square, im Arts Area inklusiv einiger Räume des Sharjah Arts Museum. Erstmals führt der Parcours zudem aus der Hauptstadt heraus nach Kalba. Die Stadt liegt am Golf von Oman – Sharjah ist das einzige Emirat mit einer West- und einer Ostküste.

Künstlerische Leiterin der 12. Sharjah Biennale 2015 ist Eungie Joo. Die in den USA lebende Kuratorin war Gründungsdirektorin der Galerie REDCAT in Los Angeles (2003-07), Direktorin am New Museum in New York (2007-12) und zuletzt am Instituto Inhotim in Brasilien. Als Titel für die 12. Sharjah Biennale wählte sie „The Past, the present, the possible“ und lud 51 KünstlerInnen aus 25 Ländern ein, davon 21 mit Wurzeln im Nahen Osten. Der Titel sei ein Zitat von Henri Lefebres Essay „The Right to the City“ von 1967, erklärt Joo. In voller Länge heißt es in der englischen Übersetzung von 1996: „The past, the present, the possible cannot be separated.“ Sie habe das Zitat gewählt, weil sie den Fokus auf Kunst legen möchte, „die sich von einem nostalgischen Blick auf die Vergangenheit befreit.“ Auf der Pressekonferenz betonte sie die Bedeutung eines Gesprächs mit Danh Vo, der die künstlerische Arbeitsweise als möglichen, wenn nicht sogar als einzigen Weg sieht, utopische, hoffnungsvolle Sichtweisen zu entwickeln. Daraus habe sie ihr Konzept entwickelt, sie sehe die Biennale als Versuch, „abstraction, formalism and content with a strong presence of experiential and meditative works“ zusammenzubringen. „We are living in an extremely perverse and decadent moment of human history and I hope this slightly utopian approach to the present helps us imagine possibilities together.“

Das Konzept der12. Sharjah Biennale ist zwar nicht sonderlich ausgefeilt, auch haben sich nur wenige KünstlerInnen um einen Beitrag für ´gemeinsame Möglichkeiten´ bemüht. Trotzdem ist es eine außergewöhnliche und großartige Biennale geworden, deren Qualität in den 36 eigens für die Orte entwickelten, oft partizipativen  Beiträgen liegt – ein Aspekt, auf den die Sheika großen Wert legt, um die zeitgenössische Kunst in der Bevölkerung zu verankern. Einige Künstler arbeiten direkt mit hier Lebenden zusammen, etwa Eduardo Navarro: Mit einer Augenbinde versehene Schulkinder rollen eine riesige, blaue (Erd-)Kugel durch einen Hindernis-Parcours, am Rand geben andere Kinder Anweisungen – ein einfaches, überzeugendes Bild für gemeinsame Verantwortung. Andere KünstlerInnen nehmen ihre Erlebnisse auf den Reisen durch das Emirat als Ausgangspunkt und kommen zu radikal neuen Materialien und Medien. Haegue Yangs (Korea, 1971) „An Opaque Wind“ basiert auf jenen silbernen, im Wind rotierenden Objekten, die auf den Dächern in Sharjah den Wind einfangen und in die Luftschächte leiten. Kombiniert mit Ventilatoren, Ziegelsteinen und anderen Baumaterialien, hat sie im offenen Innenhof eine merkwürdige Landschaft gebaut, die die Dächer auf den Boden holt. Im hinteren Teil ist ein kleiner Raum mit Liegen eingerichtet, über Kopfhörer hört man eine Stimme, die über den Wind redet. Es ist eine sparsame, wunderbar meditative Installation, eine Hommage an den Wind. Die Erfahrung von Wind und Sand in der Wüste regte Taro Shinoda (Japan, 1964) dazu an, einen ungewöhnlichen japanischen Garten zu bauen. Zwei große Löcher lassen den Sand langsam im Boden verschwinden, bis zu zwei Meter Durchmesser werden die beiden Leerstellen erreichen, bevor die gesamte Fläche neu aufgefüllt wird – ein Garten des Entschwindens.

Shinoda studierte in den letzten Jahren japanische Gärten, 200 Zeichnungen entstanden – eine großartige Serie, die jetzt auch im Sharjah Arts Museum ausgestellt ist. Die langen Gänge des Museums nutzt die Kuratorin dafür, hier größere Werkblöcke, aber auch Historisches zu zeigen, frühe Arbeiten von Hassan Sharif (Emirate, 1951), eine kleine Retrospektive von Saloua Raouda Choucair (Libanon, 1961), die ganz feinen, aus nahezu unsichtbaren Punkten bestehenden Zeichnungen von Lala Rukh (Pakistan, 1948) und die reliefartigen Bilder von Abdul Hay Mosallam Zarara (Palästina, 1933), mit denen er Solidarität für seine Heimat forderte. Joo kombiniert diese kunsthistorischen Positionen mit einer Installation von Rayyane Tabet (Libanon, 1983): Mengen von Stahlringen liegen in einer langen Reihe hintereinander. Es sind die Reste eines verlorenen Traums: die trans-arabische Pipeline, die von Saudi-Arabien über Libanon bis Syrien gebaut werden sollte. Das Projekt scheiterte an den politischen Veränderungen Anfang der 1980er Jahre in der Region. In den SAF-Art Spaces hat Tabet ein Holzboot an die Decke gehängt. Mit einem ähnlichen Boot wollte sein Vater vor 29 Jahren mit der Familie nach Zypern fliehen, aber schon nach 30 Minuten kehrte er um, zu aussichtslos erschien ihm das Unternehmen. Es sind zwei starke Bilder des Scheiterns, ein ökonomisches, ein privates Projekt.

Ähnlich wie Shinoda arbeitet auch Cinthia Marcelles (Brasilien, 1974) mit Sand. In einer Innenhof-füllenden Holzkonstruktion rieseln die feinen Körner immer wieder von der Decke herunter, denn oben stehen Arbeiten und fegen den Sand auf die Siebe. „At the risk of the real“ thematisiert die Arbeitsbedingungen auf den vielen Baustellen in den Emiraten, aber es ist ebenso ein wunderbar poetisches Zusammenspiel von Sonne, Sand und Schatten. Den feinen Sand tragen wir in unseren Haaren und Gewand weiter in die nächsten Räume, zu Byron Kims (USA, 1961) „Sunday Paintings“, in denen er den Himmel malt und darauf tagebuchartige Einträge notiert: „This meeting has really challenged me, made me realize how provincial New York is“, schreibt er am 16. März 2014 in Sharjah. Was meint er, die Pläne von Hoor Al-Qasimi, das Emirat durch Kunstprojekte wie die Biennale in der Eigen- und auch Fremdwahrnehmung neu zu prägen? Ihre Pläne, durch die Kunst-´Gärten´ viele Zeiten miteinander zu verflechten? Es bleibt unausgesprochen und darin für eigene Überlegungen offen.

Auf die historische Kultur der Region referiert Rirkrit Tiravanija (Argentinien, 1961). Er sah im Sharjah Mueum of Islamic Civilization ein Modell für eine aus dem 14. Jahrhundert stammende Maschine zur Gewinnung von Rosenwasser. Tiravanija ließ den Apparat nachbauen und inszeniert rundherum eine Ruhezone, mit eingefärbten Glasscheiben, Teppichen und Hockern, einer Bar und zwischendrin Damaszener Rosen – eine Zuchtform, die im 13. Jahrhundert mit den Kreuzrittern in die europäischen Gärten gelangte: ein Paradebeispiel, wie Zeiten und Kulturen schon lange miteinander verwoben sind.

Aus der Altstadt hinaus auf die andere Seite der Hafeneinfahrt, in eine verlassene Lagerhalle, schickt uns Michael Joo (USA, 1976) – er ist übrigens der Bruder der Kuratorin. Ähnlich wie Tiravanija entführt uns auch Joo auf eine Zeitreise. Archäologische Grabungsstätten in Sharjah inspirierten ihn dazu, in den Boden tiefe Rillen zu fräsen, die Sedimentschichten andeuten und zugleich an Spuren im Sand erinnern. Überraschenderweise vertieft er dieses Bild mit Wandmalerei: In den teilweise schon zerstörten Räumen färbte er die Wände mit Silbernitrat, dunkle, glänzende, schillernde, manchmal spiegelnde Flächen, die wie auch die Rillen aus vielen Ebenen zu bestehen scheinen. Wir lassen die Vergangenheit hinter uns, gehen in eine unbekannte Zukunft, die die verlassene Vergangenheit in sich trägt, erklärt der Künstler dazu.

Erreicht man Joos Beitrag per Schiff und nach einem kurzen Fußweg, muss man zu Adrian Villar Rojas´ (Argentinien, 1980) großartiger Installation „Planetarium“ knapp zwei Autostunden fahren. Die Straße führt quer durch Sharjah, in die schroffen Berge und durch die Wüste – eine eindrückliche Fahrt, die der Hochhauskulisse Sharjahs die stille Weite der Landschaft, aber auch den Blick auf den massiven Abbau von Schotter in den Bergen zur Seite stellt. Rojas fängt diese Asymmetrie zwischen Natur und Verwüstung beeindruckend ein. Er wählte eine ehemalige, 2400 qm große Eisfabrik, in die er mehr als dreißig Säulen baute. Als Podest dienen vorgefundene Betonflächen, auf denen früher die Maschinen standen. In die teils stark farbigen Säulen zementierte Rojas vorgefundene Objekte ein, Plastikschüsseln über Muscheln bis zu toten Vögeln, aber auch Kürbisse, Melonen und Pflanzen. Es ist wie eine Zeitfabrik, in der Schichten von verschiedenen Lebensräume und -formen zusammenkommen, in der Konsum auf Recycling trifft, Tod auf Leben, Mensch auf Natur.

Eher unbeeindruckt von dem Kontext dagegen platziert Danh Vo (Vietnam, 1974) einen weiteren Teil seiner Serie „We The People“ in einen Innenhof. Seit 2010 zerlegt er die New Yorker Freiheitsstatue und baut kleine Ausschnitte aus dünnem Kupfer nach, mal einige Finger, den Ellbogen oder jetzt in Sharjah den Arm-Ansatz. Erstmals präsentiert er die Skulptur mitsamt Arbeitsgerüst: die Freiheit ist nicht nur zerlegt und als dünne Hülle sichtbar, sondern muss auch noch gestützt werden – ein schönes, ein politisches Bild!

In der großen Spannweite dieser Beiträge der12. Sharjah Biennale ist zwar kein stringentes Thema zu finden. Aber das ist hier gut so. Denn in den Beiträgen liegt eine entwaffnende Offenheit für den politischen, sozialen, architektonischen, klimatischen Kontext, die eine ganz andere Freiheit eröffnet als jene, für die die Freiheitsstatue so symbolisch steht. Nicht das unbekannte Land ist zu besetzen, nicht eine neue Ordnung zu erstellen, sondern der Blick wird auf Schichten und Verwehungen gelenkt, auf die Welt um uns herum. Die KünstlerInnen dieser 12. Sharjah Biennale zeigen uns tatsächlich, wie wir aus der Gegenwart heraus in andere Zeiten blicken, was wir lernen, wie wir damit umgehen können: mit einem hierarchiefreien Zugang, der wie in Haegue Yangs Installation oben und unten austauschen kann, ohne die Orientierung aufzugeben.

Preisträger der 12. Sharjah Biennale (5. März – 5. Juni 2015) sind Eric Baudelaire für seine Multipart-Installation über Staatenlosigkeit, Asunción Molinos Gordo „World Agriculture Museum“, Adrián Villar Rojas für seine Installation in der Eisfabrik in Kalba, Basel Abbas und Ruanne Abou-Rahmes für ihre Suche nach einer neuen politischen Sprache in ihren Filminstallationen. Ein Spezialpreis ging an Fahrelnissa Zeid (1901-1991) für ihre Malerei aus den 1940-60ern.

veröffentlicht in: Kunstforum, Bd. 232, April/Mai 2015