17.Istanbul Bienali – eine Mini-documenta am Bosporus

24. Sep. 2022 in Biennalen

Tarek Atoui Soundinstallation “Waters Witness” im aufwenidg renovierten Hamam in Istanbul. Foto: IKSV Foundation, 17. Istanbul Bienali. Foto: Sahir Ugur Eren

Tarek Atoui Soundinstallation “Waters Witness”, 17.Istanbul Bienali, im aufwendig renovierten Hamam. Foto: IKSV Foundation, Sahir Ugur Erer

Mit einem Jahr Verspätung eröffnete die 17.Istanbul Bienali – und ist in einer für die Türkei  wirtschaftlich höchst problematischen Zeit als sehr stillen Ausgabe angelegt, die uns bis in den asiatischen Teil der Metropole führt.

Über 80 Prozent liegt die Inflationsrate in der Türkei mittlerweile. Trotzdem boomt der Tourismus, Istanbuls zentrale Einkaufsstraße Istiklal Caddesi ist gepackt voll. Hier sieht man auffallend viele vollverschleierte Frauen. Das seien vor allem arabische Touristen, erklärt ein Kellner, viele  aus Saudi-Arabien, die neuerdings kein Visum mehr benötigen. Die Türkei gilt als vergleichsweise liberaler Staat in der arabischen Welt, dazu lockt die schwache Lira. Die Bevölkerung allerdings leidet unter der Inflation, viele Künstler seien schon aus der Kunstmetropole am Bosporus weggezogen, die Mieten seien nicht mehr zu zahlen, erzählt eine Künstlerin. Gleichzeitig findet gerade ein Run auf türkische Gegenwartskunst statt, manche Maler kommen mit dem Malen nicht mehr nach. Denn für ausländische Schnäppchenjäger ist die türkische Kunst gerade einladend billig. Angst vor Armut, Zorn auf die Politik bestimmen die Stimmung in Istanbul, fasst es der Kellner im Straßenlokal zusammen.

Amam Kanwar, Ute Meta Bauer, Bige Örer, David Teh auf der Pressekonferenz zur 17. Istanbul Bienali 2022. Foto Muhenna Kahveci

Amar Kanwar, Ute Meta Bauer, Bige Örer, David Teh auf der Pressekonferenz zur 17.Istanbul Bienali 2022. Foto Muhenna Kahveci

In dieser Situation eröffnete gerade die 17.Istanbul Bienali. Aber nicht diese nationale Situation, nicht die politischen und militärischen Konflikte der Region kommen zur Sprache, sondern Spartenprobleme aus aller Welt. Das ist eine gezielte Strategie, erklärt das Kuratorentrio  (Ute Meta Bauer, Amar Kanwar, beide waren in der Findungskommission der documenta fifteen; David Teh) im Gespräch: ein Umgehen von Zensur. „Können künstlerische Sprachen etwas sagen, was die Tageszeitungen nicht mehr können?“, fragt Meta Bauer, „kann eine Biennale wie eine Zeitung funktionieren?“, ergänzt Teh.
Das ist ein so subversives wie herausforderndes Konzept, wofür sie bewusst  auf eine zentrale Halle verzichteten und sich stattdessen für eine leise Biennale entschieden – die übrigens mit einem durch die Inflation massiv geschrumpften Budget auskommen musste. Statt Biennale-typischer Großinstallationen wollen sie „lokale Initiativen stärken und verborgene Orte zeigen“, betonen sie im Gespräch. Und Verbindungen zwischen der Türkei und Asien herstellen. Dafür setzen sie ähnlich wie die documenta fifteen auf Kollektive und transdisziplinäre Gruppen, um einem großen Themenstrauß aus regionalen Problemen, Konflikten und Widerstandsformen Raum zu geben. So sind auf dieser 17.Istanbul Bienali 55 Projekte mit rund 500 involvierten Akteuren – inklusiv Mengen lokaler Performance-Teilnehmer – auf 12 Orte aufgeteilt, die erstmals in den liberalen Studentenbezirk Kadiköy führen – wohin man am besten quer über Bosporus mit einem der kleinen Wassertaxis fährt.

17. Istanbul Bienali, Müzi Gas-Han, Mekanlar Sahirugureren

17.Istanbul Bienali, Müze Gazhane, Mekanlar Sahirugureren

Dort gastiert die Biennale in dem ehemaligen Gaswerk Müze Gazhane, das zu Istanbuls bisher einzigem kommunalen Kulturzentrum umgebaut wurde – ein Vorzeigeprojekt, wie Istanbuls stellvertrentender Bürgermeister Mahir Polat im Gespräch erklärt. Fünf weitere ähnliche Zentren sollen noch entstehen. Abends locken Gastronomie und Freikonzerte bis zu 10.000 Menschen in dieses Areal. Dazwischen sind die Biennale-Werke gemischt, Ursula Biemanns Dokumentationsfilm über indigen Inga in Kolumbien, Recherchen der Gruppe Interprt zu Zerstörungen durch Tiefseebergbau und die Dorf-Dokumentationen der japanischen Fotografin Lieko Shiga. Im ehemaligen Zeitungs- und Druckereiviertel auf der europäischen Seite Istanbuls liegt das  Emin Barin (1913-1987). Hier dominieren Wandtexte, Dokumentationen und Archive. Wie schon auf der documenta so nutzen auch hier Kollektive künstlerische Methoden, um durchaus wichtige Inhalte zu vermitteln – was aber angesichts lose gruppierter Zettel, Objekte, Fotos und vieler Texten eher selten gelingt.

17. Istanbul Bienali 2022. Foto Sahirugureren

17. Istanbul Bienali 2022. Foto Sahir Ugur Erer

In einer kleinen, ehemaligen griechischen Schule in Touristenviertel Beyoglu breitet Marco Scotini auf rund zwanzig Monitoren sein 2005 begonnenes Archiv künstlerischer Widerstandsaktionen aus, darunter auch Videos des Wieners Oliver Ressler – eine kaum zu bewältigende Themenmenge! Als Hauptort bespielt die Biennale drei kleine Stockwerke im Pera-Museum, auch hier wortreiche Recherchen zu diversen Problemfeldern. Ein kompletter Raum gehört dem Archiv feministischer Strategien in Nepal, wo die subversive Strategie der 17.Istanbul Bienali am deutlichsten wird: brennende lokale Themen überregional anzusprechen. Berührend ist hier Gülsün Karamustafas Video „Insecure“: Wir hören, wie Glas zerbricht, sehen nur die kleinen Einschusslöcher – was für ein starkes Bild für drohende Katastrophen! Kontemplativ dagegen ist auf dieser Biennale kaum etwas, lediglich in den aufwendig restaurierten Badehäusern, die in der Türkei Hamam genannt werden, erzeugen Soundinstallationen eine beruhigende Atmosphäre, wenn Tarek Atoui den Klang von Wassertropfen einfängt und Taloi Havini mit Wasserschallaufahmen arbeitet.

Carlos Casas, 17. Istanbul Bienali 2022. Foto Sahir Ugur Erer

Carlos Casas, 17. Istanbul Bienali 2022. Foto Sahir Ugur Erer

Beklemmend dagegen Carlos Casas´ Sound- und Licht-Inszenierung in einem langen, stockdunklen Tunnel eines verborgenen Notzugang zur Taksim Metro Station: Immer tiefer folgen wir erst den blauen, dann den roten Leuchtröhren. Am Ende stehen wir vor einem Spiegel. Der Weg führt ins Nichts. Solche emotional intensiven Beiträge bleiben auf dieser Mini-Documenta allerdings die Ausnahme. Das Kuratorenteam vergleicht ihre Biennale mit einem Komposthaufen, aus dem Neues wachsen möge – fermentiert wird dabei offenbar unsere traditionelle Vorstellung einer bildgeprägten Kunst.

  1. Istanbul Biennale 2022, 17.9.-20.11.2022
    veröffentlicht: Die Presse, 22.9.2022