59. Biennale Venedig – Löwen & Leute

23. Jun. 2022 in Ausstellungen

Venedig April 2022 // SBV

Venedig April 2022, 59. Biennale Venedig  // SBV

59. Biennale Venedig: Rauschende Gartenparties in lauen Sommernächten – so kennen wir die Eröffnungswoche der Biennale Venedig. Dieses Jahr ist es anders. Erstmals beginnt die Biennale bereits im April. Kühle Nächte. Regen. Aber das schreckt die Besucher:innen der 59. Biennale Venedig nicht ab. Selbst vor dem Arsenale bilden sich schon in der Früh Warteschlangen bis zur Promenade am Wasser. Abends finden statt Parties pompöse Gala-Dinner in prächtigen Palazzi statt, von der Charity-Veranstaltung des Biennale-Hauptsponsors Dior im Teatro La Fenice (für die Restaurierung des Ca d´Oro Museums) bis zum Auktions-Dinner für die Ukraine in der Scuola Grande Di San Rooco. Kleinere Empfänge behelfen sich mit Schirmen wie die dichtgedrängte Gruppe der Nationalgalerie Berlin am verregneten, leeren Markusplatz, mit Frühstückseinladungen wie die Präsentation der kommenden 16. Lyon Biennale in der Bar des Hotels Metropole oder zum Lunch im Hotel Daniele aus Anlass der Gwangju-Biennale-Spezialausstellung „to where the flowers are blooming“ – bei schönem Wetter hätten wir auf der wunderbaren Terrasse über den Dächern Venedigs gesessen.

Venedig im Regen, April 2022 // Foto SBV

Venedig im Regen, April 2022 // Foto SBV

Die wichtigsten Veränderungen allerdings finden in der Kunst der Biennale statt. Denn erstmals liegt in der Hauptausstellung der 59. Biennale Venedig ein klarer Fokus auf Künstlerinnen. Und in den Länderpavillons gab es noch nie zuvor derartig viele Schwarze und Indigene, die mit ihrem Wissen über die Natur und ihren drängenden Botschaften über Gemeinschaften die Kunstdiskurse nachhaltig bestimmen. Da ist dann schnell klar, dass Francis Alys´ Videos von spielenden Kindern im Belgischen Pavillon zwar als Lieblingspavillon gilt. Die Silbernen und Goldenen Löwen der 59. Biennale Venedig aber bleiben den Neuen vorbehalten: Schon vorab gemeldet, werden erstmals zwei Goldene Löwen für das Lebenswerk vergeben, an Katharina Fritsch (1956, Deutschland) und Cecilia Vicuna (1948, Chile). Vicuna ist nicht nur Künstlerin, sondern auch Aktivistin für die Rechte der Indigenen in Südamerika, was auch ihre Werke prägt. Zwei Besondere Erwähnungen an Künstlerinnen der Hauptausstellungen gehen an Shuvinai Ashoona (1961, Nunavut/Kanada) für die künstlerische Umsetzung der indigenen Inuk Kosmologien, und an die Neue Medienpionierin Lynn Hershman Leeson (1941, USA), die in ihren Installationen die schwindende Grenze zwischen natürlichem und künstlichem Leben thematisiert. Zwei Besondere Erwähnungen gehen an Nationalpavillons: Für Frankreich wird Zineb Sedira „für Solidarität als Idee des Aufbaus von Gemeinschaften in der Diaspora“ und „für die vielfältigen Geschichten des Widerstands in ihrer Arbeit“ ausgezeichnet; im Beitrag von Uganda (Acaye Kerunen, Collin Sekajugo) erwähnt die Jury Kerunens Wahl skulpturaler Materialien, die „Nachhaltigkeit als Praxis und nicht nur als Politik oder Konzept“ verdeutlichen. Während Kerunen sich mit einem wunderbaren, kurzen Gesang bedankt, ist Ali Cherri (1976, Libanon) über seinen Silbernen Löwen als Nachwuchskünstler derartig überwältigt, dass er erst kaum sprechen kann. Cherris Video „Of Men and Gods and Mad“ läuft in der Hauptausstellung und zeigt die langsame Produktion von Lehmziegeln bei einem Staudammbau im Sudan. Es sei eine „Meditation über Erde, Feuer und Wasser aus einer konstruktiven Perspektive in einer mythischen Dimension“, wie die Jury es formuliert.

Goldene Löwen Preisverleihung 59. Biennale Venedig 2022, Jurymitglieder // SBV

Goldene Löwen Preisverleihung 59. Biennale Venedig 2022, Jurymitglieder // SBV

Der Goldene Löwe in der Hauptausstellung geht an Simone Leigh (1976, USA), die als erste schwarze Künstlerin zugleich den USA Pavillon bespielt. Mit ihrer monumental-heroischen Skulptur „Brick House“ beginnt kraftvoll der Ausstellungsparcours im Arsenale. Sie bedankte sich tief berührt bei Cecilia Alemani mit den überschwänglichen Worten „meine Heldin“. Den begehrten Goldenen Löwen für den besten National Pavillon nimmt Sonia Boyce (1962, England) entgegen, die mit „Feeling Her Way“ die Kraft der schwarzen (Musik-)Gemeinschaft beschwört und „eine Fülle von zum Schweigen gebrachten Geschichten entfalte“, so die Jury. Sie gibt sich kämpferisch: „Wir sind hier. Wir gehen nicht mehr weg“, und sie könne es „kaum erwarten, dass sich andere durchsetzen“, ruft sie strahlend aus (Jury: Adrienne Edwards (USA), Lorenzo Giusti (Italien), Julieta González (Mexiko), Bonaventure Soh Bejeng Ndikung (Kamerun/Deutschland), Susanne Pfeffer (Deutschland).

Anselm Kiefer im Palazzo Ducale, 2022 / SBV

Anselm Kiefer im Palazzo Ducale, 2022 / SBV

Beim Gang durch die Stadt scheint dann wieder alles beim Alten zu sein. Hier übernehmen die Mega-Galerien die Palazzi für ihre männlichen Blue-Chips: Georg Baselitz (Palazzo Grimani), Anish Kapoor (Gallerie dell´Accademia und im Palazzo Manfrin), Sterling Ruby (Lalazzo Diedo), Raqib Shaw (Palazzo della Memoria) und Anselm Kiefer (Palazzo Ducale). Im Sala dello Scrutinio ließ Kiefer die Meisterwerke von Tintoretto und Andrea Vicentinos verhüllen, um stattdessen auf den 800 Quadratmetern seine acht, aus je 15-20 Leinwänden zusammengengesetzten Szenen zu präsentieren: eine düstere Demontage von Macht, voller Tod, Feuer, Flucht. So gewaltig Kiefers Werk auch ist, die Favoriten in der Stadt sind dann doch wieder weiblich: Am Markusplatz Louise Nelsons (1899-1988) schwarzen, boxähnlichen Skulpturen, darunter auch jene, die sie 1962 im USA Länderpavillon zeigte. Und in einer kleinen Kapelle in einem verwunschenen Garten in Dorsoduro zeigt Rachel Lee Hovnanian ihre „Angels Listening“. „Sei ein Engel und halte den Mund“, habe man ihr als Kind gesagt, erzählt sie beim Lunch im Hotel Daniele. In der Kapelle sehen wir dann eng nebeneinander sieben in weißer Bronze gegossene Putti, deren Mund verklebt ist. Hinten steht ein silbern gefärbter Beichtstuhl. Besucher:innen können auf kleinen Papierstreifen kurze Nachrichten hinterlassen über jene Dinge, die sie niemandem sagen würden. Auf großen Bögen werden die später aufgeklebt, wir lesen, wir teilen ihre Sorgen und Ängste – eine intime, andächtige Installation, die ganz im Sinne dieser 59. Biennale Venedig eine große Gemeinschaft und ein Ende des Schweigens beschwört. (SBV)

Rachel Lee Hovnanian, Angels Listening, 2022, Venedig. Courtesy A Colonna

Rachel Lee Hovnanian, Angels Listening, 2022, Venedig. Courtesy A Colonna

veröffentlicht in: Kunstforum International, Bd. 282, 59. Biennale Venedig, 2022