Auf der Suche nach Utopia – in Leuven

29. Okt. 2016 in Ausstellungen

rotezelte

Die Bäume tragen rote Strümpfe, die Stufen vor der Bibliothek sind mit roten Streifen markiert und im Park stehen rote Zelte auf Rollen. Löwen leuchtet rot, und rot ist die Farbe von Utopia. Denn in diesem Jahr feiert die belgische Stadt ein großes Jubiläum: Vor 500 Jahren wurde hier die erste Auflage von Thomas Morus´ Utopia-Buch gedruckt. Zwar war der englische Gelehrte selbst nie in dem Städtchen. Aber sein Freund Erasmus von Rotterdam lebte in Löwen am Hof von Burgund und hatte beste Kontakte zu einem Drucker.

Thomas Morus, Kopie nach Hans Holbein d. J., 527. Londen, National Portrait Gallery

Thomas Morus, Kopie nach Hans Holbein d. J., 527. Londen, National Portrait Gallery

Jetzt ist die gesamte Stadt auf der Suche nach Utopia. In den Schulen wird das Buch gelesen, in Restaurants lassen sich die Köche von Rezepten aus dem frühen 16. Jahrhundert inspirieren, in der Stadt suchen fünf Künstler die ideale Welt von heute und im M Museum Leuven ist das Jubiläum Ausgangspunkt einer historischen Ausstellung. Utopia, das ist das Versprechen auf ein besseres Leben. In seinem Buch von 1516 lässt Morus einen Seemann von einer unbekannten Insel erzählen. Dort speisen die Menschen in Gemeinschaftsküchen, Privateigentum existiert nicht, alles ist dem kollektiven Ideal untergeordnet, alle sind glücklich. Bis heute wird jede Schilderung einer fiktiven, positiven Gesellschaft ´Utopie´ genannt.

Utopia, M Museum Leuven, 2016

Utopia, M Museum Leuven, 2016

Das Buch entstand in einer Zeit, in der sich Kunst und Wissenschaft in der gemeinsamen Neugierde an neuen Welten trafen. Der Traum von einer idealen Welt und die Sehnsucht nach dem Unbekannten sind auch die Leitmotive der zentralen Jubiläums-Ausstellung. In sieben Jahren Vorbereitungszeit hatten sie zunächst 1500 Arbeiten in Betracht gezogen, erzählt Kurator Jan Van der Stock.
utopia051Jetzt vermitteln 800 exquisite Bilder, Tapisserien, Landkarten, Bücher und Himmelsgloben uns ein Bild jener Zeit, als Utopia entstand. Es beginnt mit einer Originalausgabe der legendären Publikation von 1516 und Portraitbildern von Morus, der eigentlich More hieß. Geboren 1478 in London als Sohn eines Anwaltes, studierte er Jura, wurde später Diplomat, Parlamentssprecher, starb 1535 als Hochverräter durch Enthauptung und wurde 1935 wegen seiner Treue zur katholischen Kirche heilig gesprochen. Sein Buch schrieb er in lateinischer Sprache und versteckte in Namen und Wortneuschöpfungen viele kleine Anspielungen. So heißt ´Utopie´ übersetzt ´Nicht-Ort´, der Seemann heißt ´Possenreißer´ und durch die „Stadt der Geister“ fließt der „Trockene Fluss“ – Hinweise, diesen Staat kritisch zu sehen, etwa das Zwanghafte im Kollektiven, in dem es keine Individualität geben kann. Die Ausstellung greift die Kritik auf, indem auf die Bilder von Gärten der Lust im nächsten Raum Höllendarstellungen folgen. Utopia ist aber auch die Suche nach Neuem, das 16. Jahrhundert war die Zeit der Entdeckungsreisen. Wir sehen großartige Landkarten wie die „Mappa Mundi“ von 1550, die für den französischen König entstand. Hier sind Mengen von skurrilen Wesen eingezeichnet, manche nach Erzählungen entworfen, andere frei erfunden. Die Karte ist so heikel, dass sie über den Zeitraum von drei Monaten langsam entrollt werden musste, um jede Beschädigung auszuschließen. utopia040Nach diesen Welten der Imagination folgen Verbildlichungen des Irdischen und des Kosmos – wunderbar die Tapisserie, auf der ein Engel eine Kurbel dreht, ein Erklärungsversuch zur Frage, was die Welt bewegt.
Grandiose Werke sind hier zu sehen. Aber die Ausstellung bewegt sich im gesellschaftspolitisch freien Raum, was angesichts der Thematik irritiert. Immerhin streift die Schau „Utopia & More“, die in der Universitätsbibliothek u.a. Faksimile von Mores Korrespondenzen zeigt, diese Ebene. Ein Raum ist den Auswirkungen von Utopia auf die Kultur gewidmet. Die staatlich verortnete Kollektivität auf der imaginären Insel ist zwanghaft, für Individualität ist darin kein Platz. In der Literatur führte der Weg von Utopia daher zu George Orwells Roman „1984“, eine düstere Dystopia, die von einem totalen Überwachungsstaat handelt. In der Architektur führte es zu Entwürfen wie jene von Campanella oder Le Corbusier: streng symmetrisch und zentralistisch angelegte, völlig vereinheitlichte Idealstädte.

Entwurf für eine Flüchtlings-Enklave // SBV

Entwurf für eine Flüchtlings-Enklave // SBV

Einen aktuellen Blick auf das Thema wirft dann „EUtopia“ im M-Museum Leuven. Fünf Architekturteams wurden eingeladen, die historische Utopie zu aktualisieren: Wie sähe der Stadtplan einer architektonischen Erweiterung der Insel aus? Wie können Fremde integriert werden? Was wäre dort ein Raum für Individuen und wie werden Utopien heute bei uns umgesetzt? Gerade der letzte Punkt ist spannend, denn viele Visionen von Morus sind in unseren Wohlfahrtsstaaten (noch) alltäglich, wie Chancengleichheit, Kinderbetreuung, kostenlose Bildung, freies Trinkwasser. Was es kaum mehr gibt, sind Formen von Kollektivität. Ein Team suchte danach und fand eine in der Reaktion auf die Bombenattacke in Brüssel: die spontan entstandenen, symbolischen Begegnungsstätten für eine gemeinsame Trauer. Als Modelle für eine neue Kollektivität in Löwen wurden die roten Zelte entwickelt, die über den Stadtraum verteilt sind. In diesen konsumfreien, beweglichen Räumen treffen sich Menschen, um geschützt zusammenzusitzen und neue Utopien zu entwickeln.

Adrien Tirtiaux, Leuven // SBV

Adrien Tirtiaux, Leuven // SBV

Und einer der schönsten Vorschläge kommt von einem Künstler: Der Belgier Adrien Tirtiaux, der in Wien studierte, suchte sich eine Grenze aus, nämlich die hohe Mauer zwischen Stadtpark und den angrenzenden Häusern. Zusammen mit den Bewohnern baute er temporäre Brücken, Leitern, Lastenzüge, Terrassen und sogar eine kleine Promenade auf der Mauer, um die Grenze zu entschärfen – oft sind es die kleinen Utopien, die das Leben in der Stadt verbessern.
(Suche nach Utopia, M Museum Leuven, bis 17.1.2016)

veröffentlicht in: Schaufenster, Magazin Die Presse, 28.10.2016