Doug Aitken in der Wiener Secession

05. Jan. 2001 in Ausstellungen

Müde senken sich die Augenlieder, blinzeln im Kampf gegen den Schlaf, überdimensional groß auf die Außenfassade der Wiener Secession projiziert. Sie sind zugleich Einstimmung und nächtliche Ausstellungserweiterung von Doug Aitkens „Glass Horizon“, der ersten großen Institutionsausstellung des jungen Kaliforniers. Sein Beitrag „Electric Earth“ gehörte auf der letztjährigen Biennale Venedig zu den großen Entdeckungen: Ein einsamer Mann läuft durch die leeren Straßen einer Stadt. Der Rhythmus scheint die einzig mögliche Verbindung des Mannes zu sein, um die unsichtbare Grenze zur Umgebung aufzubrechen. In subtiler Verdoppelung erfuhr auch jeder Betrachter von „Electric Earth“ eine ähnliche Grenze, denn die Projektion zergliederte sich in lauter hintereinander gereihte Leinwände. Ließ man sich auf den Rhythmus der fragmentierten Erfahrung ein, entstand ein kurzer Moment der Übereinstimmung zwischen Film und Wirklichkeit.
Die Faszination dieser Arbeit bestand zugleich in der präzisen Produktion und perfekten Inszenierung der Videos. Beides trifft auch auf die aktuelle Wiener Ausstellung zu. Hier ergänzen sich in beeindruckender Weise die  subtile Filmbilder mit der skulpturalen Raumgestaltung: die farbigen geometrischen Formen im Teppichboden und den Deckengläsern gliedern den Raum ebenso wie das Podest und die Vorhänge – jede Arbeit erhält ihren eigenen, klar abgegrenzten Bereich. Über allem liegt eine Leitmelodie, die bereits in Aitkens früheren Arbeiten anklang und jetzt im Titel ausgesprochen ist: die Metapher einer gläsernen Grenze. Mitten im Raum steht ein großes X aus vier bilddurchlässigen Leinwänden, auf die einander durchdringend „Hysteria“ (1998) projiziert ist: Vierzig Jahre Popgeschichte, die Revolutionen in der Musik gespiegelt im Verhalten der Fans, vom gesitteten Kollektivkreischen der 60er Jahre bis zum Sprung des 90er-Jahre-Grungetypen von der Bühne in die Hände der Fans. Der Lärm dieser Fans begleitet den Weg zu „These restless minds“ (1998): drei Monitore, im engen Kreis von der Decke hängend zeigen Bilder von Landschaften, Städten, Verkehr, Menschen und Maschinen. Dazu sprechen Auktionäre endlose Zahlenreihen, die sich wie ein beschwörender Gesang über die Bilder legen: die Welt in Verkaufspreisen? Das Fan-Kreischen und Zahlengemurmel verstummt in den beiden neuen, den Ausstellungstitel vorgebenden Videos „Glass Horizon I und II“. Jede dieser Doppelprojektionen bespielt die beiden Seiten einer Leinwand. Aber anders als z.B. Stan Douglas, der sich dieser Möglichkeit bediente, um die Kehrseite einer offiziellen Version zu zeigen, eine Jazz-Session um die ausgeblendeten Bilder zu ergänzen, zieht uns Doug Aitken in den Bann einer intensiven Bilderwelt: „Blow Debris (Glass Horizont I)“ projiziert auf der einen Seite einen einsamen nackten Tennisspieler, auf die andere die Ballmaschine und die Bälle am Netz. Doug Aitken spielt hier mit direkten bildlichen Gleichsetzungen, das Netz mit der Leinwand, die beiden Spielhälften mit den Projektionsseiten und der Ballaufschlag mit der – dramaturgisch perfekten – Musik.
„Blow Debris (Glass Horizont II)“ geht noch einen deutlichen Schritt weiter. Auch hier ist der Protagonist nackt, allerdings nicht nur zum Purifizieren der Szene, sondern zur Steigerung der Surrealität. Auf beiden Seiten ein Auto, in das der Mann mal ein-, mal aussteigt, mal auf Sand-, mal auf Asphaltboden, dazu beidesmal ein schneller Zoom aus der Vogelperspektive und die Zeitlupe einer Bewegung. Es sind nur Details, manchmal Bruchstücke von Sekunden, in denen eine irreale Welt ins Bild rückt: Wenn in der Großaufnahme der Fußes den Asphalt berührt und der Sand durch die Zehen rinnt, wenn die Bälle aus dem Dunkel der Ballmaschine geschossen kommen, wenn dieser schnelle Zoom auf das Gebirge, im zweiten Teil auf die absurd-reale Ansammlung Tausender identischer Einfamilienhäuser zuzischt, aber auch, wenn die endlosen Zahlenreihen auf die Bilder des amerikanischen Alltags treffen. Es sind Momente, die manchmal die Kamera zum Autor werden lassen und manchmal die technischen Möglichkeiten des Mediums ausschöpfen, z.B. die rückwärtslaufende Zeitlupe des aufstehenden Mannes – oder aufersteht?
Doug Aitken ist vor wenigen Jahren beim Surfen fast ertrunken und war vier Tage lang bewußtlos und man ist geneigt, dieser existentiellen Erfahrung in den Filmen nachzuspüren. Da Aitkens Filme aber bisher weder auf biographischen Momenten noch auf sprachlich vermittelten Informationen basieren, gehören solche Überlegungen allerdings in das Reich der Spekulationen. „Glass Horizon“ steht in krassem Kontrast zu z.B. Stan Douglas´ Methode, aus einem Mosaik von Hintergrundwissen, Anspielungen und Querverbindungen ein umfassendes Interpretationsgerüst zu bauen. Stattdessen vertraut Aitken der erzählerischen Eigendynamik – und der Schnittfolge – der gefilmten Bilder. Auch wenn er an so aufgeladenen Orten wie das über Jahre streng abgeriegelte Diamantenabbaugebiet in Namibia („Diamond Sea“), die Insel Montserrat ein Jahr nach dem verheerenden Vulkanausbruch („Eraser“) oder in jener Gegend in Guyana filmt, wo die Anhänger des Reverend Jim Jones Ende der 70er Jahre kollektiven Selbstmord begingen („Monsoon“), die spektakulären Geschichten dazu werden nicht in Titeln oder Texten dazu geliefert, sondern ruhen in unerwarteten oder auch unerklärlichen Details der gefilmten Landschaft. Die Geschichten sind ein Anfangspunkt, von wo aus der Weg in eine Bildwelt führt, die Aitken als einen Zwischenraum bezeichnet: jener Ort, der Zeit als fragmentierte, beschleunigte, verlangsamte Erfahrung vorführt. Es sind die wortlosen Bilder einer dünnen, gläsernen Grenze, jenes Bereichs, den die Augen auf der Fassade verbildlichen: dieser kurze Moment zwischen dem Eintritt in eine irreale Welt und der Rückkehr in die wache Wahrnehmung.

veröffentlicht in: FAZ, September 2000
Doug Aitken, Wiener Secession, bis 23.November 2000,