Jan Fabre, Offering to the God of Insomnia

13. Nov. 2013 in Ausstellungen

Jan Fabre, Offering to the god of insomnia. Courtesy Galerie Mauroner, Wien / Salzburg

Jan Fabre, Offering to the god of insomnia. Courtesy Galerie Mauroner, Wien / Salzburg

I. Louvre
Von den Wänden schauen strenge Blicke herab. Sie stammen von dunkel gekleideten, dramatisch ausgeleuchteten Männern und Frauen, portraitiert von holländischen Meistern des 17. Jahrhunderts. Inmitten dieser ehrfurchtsvollen Präsentation steht eine Vitrine. Auf rotem Samt liegen darin acht Arme, Beine und Füße, geformt aus Wachs. Auf diese Körperteile sind Glasaugen aufgeklebt, oft so dicht aneinander, dass sie wie eine eigenartige Population erscheinen, oder wie ein Augenmeer, das nicht nur den gesamten Raum in den Blick nimmt, sondern auch auf sich selbst gerichtet ist.

Offering to the God of Insomnia“ betitelte Jan Fabre diese Vitrinenarbeit, die er in seiner großen Ausstellung im Louvre 2008 zeigte. Rund 50 Installationen, Skulpturen und Zeichnungen hatte er in die 40 Säle für flämische und holländische Kunst integriert. „Im flämischen Teil von Belgien sind die Vorhänge geschlossen, weil wir Katholiken sind. In Holland dagegen sind die Vorhänge geöffnet, weil die Calvinisten beweisen müssen, dass sie arbeiten. Sie wollen immer sehen und gesehen werden. In all den Portraits der Alten Meister sind die Blicke, die Augen daher ein bedeutender Teil des Bildes,“ erzählt Jan Fabre . Es ist eine augenzwinkernde Erklärung, denn tatsächlich ist diese Vitrine ein weit über religionsgeschichtliche Besonderheiten hinausgehendes Werk.
Die Vitrine im Louvre war die erste Arbeit einer umfangreichen Werkserie, die Fabre 2008 vier Jahre später abgeschlossen hat. „Offering to the God of Insomnia“ besteht mittlerweile aus rund 80 Objekten in 8 Vitrinen und war 2012 erstmals in den temporären Räumen der Galerie MAM am Waagplatz in Salzburg zu sehen. Und in der Gesamtheit der Serie wird deutlich: „Offering to the God of Insomnia“ ist nichts weniger als eine umfassende Beschäftigung mit dem Körper, die ihren Ausgangspunkt in Jan Fabres Biographie nimmt und weit hinein in kunst- und kulturgeschichtliche Aspekte bis hin zum Thema des Blicks führt.

II. Insomnia
Fabre widmet die Installation dem ´Gott der Schlaflosigkeit´. Somnus, der römische Gott des Schlafes, Sohn der Nacht, Zwillingsbruder des Todes, ist Namenspate dieses Zustandes, der Fabres Leben prägt. Seit seiner Geburt leidet der Künstler unter Schlaflosigkeit. „Meine Mutter war auch nächtelang wach, es ist genetisch vererbt. Ich musste oft die ganze Nacht Karten mit ihr spielen,“ erinnert er sich. Als Kind wurde er medikamentös behandelt, „aber über die Jahre habe ich akzeptiert, manchmal bis zu vier Tage hintereinander nicht zu schlafen. Ich nehme den Zustand nicht mehr als Feind, sondern als Freund wahr, schreibe und zeichne nachts viel. Die Nacht macht einen sehr empfindlich, es ist eine besondere Zeit.“
Über die körperlichen Beschwerden durch die Schlaflosigkeit führt Jan Fabre seit Jahren ein Tagebuch. In seinem gesamten Werk ist der Körper ein Hauptthema, die Erforschung verschiedener Teile: Haut, Skelett bzw. Knochen, Körperflüssigkeiten wie Sperma, Urin, Blut und Tränen, das Gehirn. „Das hängt natürlich auch mit den vielen Zuständen zusammen, die ich an meinem Körper beobachte, die durch Schlaflosigkeit bedingte Überempfindlichkeit jedes einzelnen Teils.“ Diese Körperreaktionen bis in die Organe, die Lungenentzündung in seiner frühen Kindheit, die Krämpfe, der Atem, der sich verändert – all dies notiert er seit den 1970er Jahren. Es ist eine „Erforschung der physischen Reaktionen und Empfindlichkeiten einzelner Körperteile.“

Auf diesen Eintragungen basieren auch die Objekte in den acht Vitrinen, deren Reihenfolge chronologisch angelegt ist, aber bald den biographischen Fokus erweitert: vom Magen zur Lunge, in der dritten Vitrine der Unterkörper, in der vierten die Geschlechtsorgane einer Frau, in der siebten vier kleine, puppenartige Figuren, je zwei Jungen und Mädchen, in der letzten, großen Vitrine zwei aufrechte Ganzkörperfiguren, ein Mann und eine Frau. Manche Körperteile sind komplett mit Glasaugen überwuchert, andere nur mit wenigen versehen. „Sie erzählen von meinen physischen Erfahrungen, wenn sie die Teile mehr oder weniger bedecken. Manchmal habe ich überall in den Beinen Kontraktionen und Krämpfe, manchmal nur in wenigen Muskeln“, erklärt Jan Fabre.

Nicht nur die Körperteile, auch die Augen folgen biographischen Vorgaben. Jedes Auge ist einzeln händisch gefertigt nach Vorlagen seiner eigenen Augen. „Ich habe meine Augen zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten fotografiert, die Farbe wechselt immer wieder ein wenig, von grün zu blau zu braun. Auch die Adern im Augapfel folgen weitgehend diesen Fotografien – wenn ich mehrere Tage wach bin, platzen die Äderchen und werden rot.“

III. Wallfahrt
Diese biographischen Ausgangsentscheidungen führen dann im nächsten Schritt zu komplexen Zusammenhängen. Ein wichtiges Element dafür sind die historischen Vitrinen aus dem Naturhistorischen Museum London, wo Jan Fabre sie während seines dreijährigen Stipendiaten-Aufenthaltes entdeckte. „Im Keller sah ich die acht Vitrinen und bat darum, diese Möbel anstelle eines Honorars zu erhalten“, erinnert sich Fabre. Auf die Originalstoffe gebettet, erhalten darin die von Augen überwucherten Körper und Körperteile jetzt eine seltsame Überhöhung. Sie erscheinen einerseits veredelt, individualisiert und andererseits versachlicht. Der rote Samtstoff verschafft ihnen einen theaterhaften Auftritt, die Vitrinen werden zu Bühnen, in der die Körper in acht Akten in Szene gesetzt sind. Die einzelnen Teile sind darin die Requisiten, die Augen die Akteure. Gleichzeitig vermitteln die Vitrinen aber auch jene nüchterne Wissenschaftlichkeit, die unsere Naturhistorischen Museen ausstrahlen, in der Objekte wie seltene Spezies präsentiert sind, ihres Kontextes beraubt und in reiner Sachlichkeit zur Anschauung ausgebreitet – allerdings in eine doppelte Anschauung, denn in den Vitrinen beobachten wir ja Augen, die selbst beobachten.
Diesem Balanceakt zwischen Theatralik und Rationalität steht noch ein weiteres Spiel mit Metaebenen zur Seite. In Vitrine V liegen zwei Arme ausgestreckt wie auf Jesusbildern im Moment der Segnung. In der siebten Vitrine sehen wir vier kleine, puppenartige Figuren betend mit einem Kreuz in der Hand, in der letzten Vitrine dann zwei aufrechte Ganzkörperfiguren, die Hände vor dem Bauch verschränkt, offenbar auch betend. Hier kommt deutlich ein religiöser Kontext in den Blick. Wachsformen einzelner Körperteile werden in Wallfahrtskirchen in Lourdes oder Lissabon verkauft. Man erwirbt Stücke jener Körperstellen, von denen Heilung erhofft wird, ein Bein, eine Leber, ein Finger, um sie dann segnen zu lassen. Wie in den Kirchen so sind auch Jan Fabres Körperteile mal in Kinder-, mal in Erwachsenengröße. Aber Jan Fabres Wachsformen liegen nicht zur Segnung aus, sondern sind von Augen überwuchert. Versinnbildlichen die vielen Augen die Macht des allgegenwärtigen Auge Gottes? Im Gegenteil: „Blindheit durch Religion“, kommentiert Fabre, denn die Köpfe der Betenden sind komplett bedeckt.
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IV. Augen

Genau genommen sind die Figuren nicht nur blind, weil ihr Sehfeld bedeckt ist, sondern auch, weil eine andere Form der Wahrnehmung darüber liegt. Diese Schicht aus lauter Augen erinnert an Facettenaugen von Insekten, die aus mehreren, bei Libellen beispielsweise bis zu 20.000 Ommatidien genannten Glasaugen bestehen. Insekten setzen sich so ein Bild ihrer Umgebung aus lauter einzelnen Bildpunkten zusammen. Welches Bild würden all die Glasaugen in den Vitrinen erzeugen? Liegen bei den Betenden Bilder über Bildern, treffen Wahrnehmungswelten aufeinander? Aber an welcher Stelle würden all die möglichen Informationen der Ommatidien zusammenkommen? Bündeln sich die Wahrnehmungen in den Betrachtern der Vitrinen? Schauen wir deswegen so gebannt auf all die Augen, weil wir einem eigenartigen Sehen zusehen?
In der Kulturgeschichte unserer Welt kommt Augen seit jeher eine besonders Bedeutung zu. Zunächst ist das Auge ein Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen. Kulturgeschichtlich kommen diesem Organ aber weit mehr Funktionen zu. Die erste Stunde in der griechischen und römischen Zeiteinteilung hieß ´auge´, übersetzt ´das erste Lich , die Stunde des Sonnenaufgangs. In vielen Kulturen gilt das Auge als Symbol für Gott, in Ägypten diente das Horusauge als Schutzzeichen vor dem bösen Blick und als Zeichen für Heilung. In vielen Kulturen wird das Auge als Symbolzeichen für Gott eingesetzt, als Auge der Vorhersehung oder als allwissendes Auge. Nicht zuletzt als Souvenir aus der Türkei ist auch das blaue Auge, genannt ´Nazar´, bekannt. Das Wort nazar kommt aus dem arabischen und bedeutet ´Blick´. Im Volksglauben besitzen Menschen mit blauen Augen einen unheilvollen Blick, der mit diesen blauen Augen-Steinen aus Glas als Gegenzauber abgewendet werden soll.
In der Psychologie gilt das Auge als Spiegel der Seele, es ist eines unserer wichtigsten Kommunikationsorgane, um zwischenmenschliche Beziehungen herzustellen. Die Augen sind das einzige Organ, das direkt mit dem Gehirn verbunden ist. Die Impulse, die wir darüber aufnehmen, sind daher besonders wirksam, sie bestimmen das Bild, das wir uns von der Welt machen. Und umgekehrt ist es der Blick, der uns ähnlich wie unsere Stimme als entscheidendes Mittel des Selbstausdrucks dient. „Blicke finden nie in einem konfliktfreien Bereich statt, sondern geschehen im Machtspiel zwischen Subjekten“, schreibt der deutsche Kunsthistoriker Hans Belting: „Wir lieben, hassen und verführen mit Blicken.“
In der Kunstgeschichte dient der Blick oft der Identifizierung zwischen Bildbetrachter und Bildfiguren, die inszenierten Blicke werfen uns auf uns selbst zurück. Portraits werden als besonders intensiv empfunden, wenn uns die Blicke direkt treffen. Im Bild leiten uns die Blicke durch den Bildraum, vermögen Wertigkeiten zu setzen und die Erzählstruktur zu bestimmen.
In Jan Fabres Werk leiten uns die Augen durch eine Welt von Körpererfahrungen, irritiert allerdings durch eine weitere Dimension: die Proportionsverschiebung. Während die Glasaugen maßstabsgetreu sind, variiert die Größe der Organe und Ganzkörperfiguren. Mal vergrößert, mal verkleinert, scheinen die Körper und Körpeerteile sich der Macht der Blicke bzw. Augen anzupassen. Solche Proportionsanpassungen an unsere emotionale Wirklichkeit kennen wir aus Schmerzsituationen, auch umgekehrt aus besonderer Aufmerksamkeit: Was in den Fokus gerät, wächst wie unter einer Lupe. Was wir verdrängen möchten, schrumpft.
Noch verstärkt durch die ungeheure Menge der Glasaugen führen die Proportionsverschiebungen dazu, dass wir immer wieder das Vertrauen in unseren Blick verlieren. Die Sachlichkeit der Vitrinen-Präsentation, die Emotionalität durch die variierenden Proportionen und die Intensität der vielen Augen erzeugen eine surreale Wirklichkeit. Wir sehen eine höchst irritiernde Welt verselbstständigter Blicke. Was hauptsächlich als Brücke zu einem Außen, zur Weltkonstruktion und –verständigung dient, zieht uns hier in eine Innenperspektive. All diese Augen werden zu unseren Augen, die gleichzeitig beoachten und verdecken.

V. Glasaugen
Verschärft wird diese Spannung dadurch, dass uns diese Augen nie direkt anschauen. Dadurch tritt wiederum eine Versachlichung in unsere Wahrnehmung. Die suggestive Kraft der vielen Blicke wird relativiert durch die kalte Schönheit der Glasaugen.
Künstliche Augen sind seit über 2000 Jahren bekannt. Schon die alten Ägypter, die Griechen und Römer suchten dieses Spiegelbild der Seele in kunstvollen Nachbildungen aus Edelsteinen, Elfenbein oder später Porzellan für Statuen, Mumien und Puppen anzufertigen. Aristoteles erwähnt eine Puppe mit beweglichen Augen. Auch die Chinesen fertigten künstliche Augen für Masken oder Tierspielzeug an. Im Mittelalter erstmals auch als kosmetische Versorgung bei Menschen eingesetzt, entwickeln sich damals zwei Arten: das bemalte Vorlegeauge und die realistischer aussehenden, unter die Lider geschobenen Einlegeaugen. Ein Vorlegeauge war etwa ein mit Auge, Wimpern und Lidern bemaltes Leder, das über dem Auge getragen wurde. Einlegeaugen konnten auch aus Gold oder Silber mit einer in Emailfarben bemalten Iris bestehen.
Im 17. Jahrhundert wird erstmals Glas als wichtigstes Material für künstliche Augen bekannt. Metallunverträglichkeit, das Gewicht dieser Schalen und die starke Reizung durch scharfe Ränder führten zur Entwicklung von Schalen aus Glas . Der Anatomist und Chirurg Hieronymus Fabricius erwähnt 1623 Glasaugen als bereits bekannt , in Lyon wissen wir von gläsernen Augen aus dem Jahr 1655. Damals dienten noch bleibezogene Rückseiten für ebenmäßige Innenflächen, im 18. Jahrhundert setzte man Bleioxyd ein, um das Glas weiß zu färben. Auf Anregung eines Augenarztes entwickelte dann ein Glasmacher und Kunstaugenbläser im thüringischen Lauscha ein Spezialglas: Das Kryolithglas, das der Tränenflüssigkeit besser standhält als das damals üblich Blei- oder Beinglas.
Aus Kryolithglas sind auch die Augen in Jan Fabres Werk. Vier Jahre lang fertigten dafür zwei österreichische Glasbläser fast 1000 mundgeblasene und handbemalte Augen an. Und all die vielen Augäpfel in den Vitrinen sind präzise mit der vorgegebenen Äderung versehen, die mittels Farbstängel auf das Glas aufgeschmolzen werden. Der letzte Schritt im Produktionsprozess lag dann bei dem Künstler selbst: „All die Augen waren überall in meinem Wohnzimmer und im Atelier. Ich habe die zu ganz unterschiedlichen Zeiten, in verschiedenen Perioden meines Lebens bearbeitet – es wurde fast zu einem spirituellen Ritual, all die Augen zusammenzukleben.“
VI. Partitur der Blicke
„Ich sehe diese Augen wie eine Partitur der Zeit, der erlebten und jener, die ich für das Werk benötigte,“ sagt Jan Fabre. Zugleich ist es aber auch ein zeitloser Moment, den diese Augen erzeugen. Entkoppelt von einem Körper, mutieren sie zu eigenen Organismen, die sich wie Flechten über alles legen, sich ausbreiten, sich die Körperfragmente einverleiben. Wir fühlen uns von diesen Augen nicht adressiert, denn diese Augen führen ein Eigenleben, das außerhalb unserer Welt- und Zeiterfahrung liegt. „All diese Augen sind auch ein Bild für die durchwachten Tage und Nächte, für Körperteile, die wach sind, die ein Eigenleben kommen, aber auch beobachtet werden.“ Die Augen sind aber auch „wie eine zweite Haut: Indem sie alles beobachten, beschützen sie den Körper. Diese Augen nehmen Energie auf und senden sie ab.“

Text für einen nie veröffentlichten Jan Fabre-Katalog der Galerie Mauroner, Wien 2013