Kader Attia: Zurückaneignung von Entwendetem

05. Dez. 2015 in Ausstellungen

Portrait von Kader Attia, dem Kurator der 12. Berlin Biennale 2022

Portrait von Kader Attia, dem Kurator der 12. Berlin Biennale 2022

„The Repair from Occident to Extra-Occidental Cultures“ von Kader Attia gehörte zu den Höhepunkten der documenta 13, 2012: Der Raum stand voller roher Industrieregale, auf denen festgeschraubte Bücher, Fotografien und überraschenden Skulpturen ausgestellt waren: deformierte Soldatengesichter waren aus Holz nachgeschnitzt und afrikanische Masken aus Carrara-Marmor gehauen. Daneben lag „Schützengrabenkunst“: zu Gebrauchsobjekten und Kriegsandenken umgearbeitete Patronen- und Granathülsen. Mit dieser umfassenden Installation thematisierte Kader Attia erstmals ausführlich jenes Gebiet, dass er „Reappropriation“ nennt. Als Sohn algerischer Auswanderer in Frankreich geboren (1970), ist Kader Attia sensibilisiert für eine spezielle Form des Kulturaustausches – eines einseitigen. So wurden lange die Skulpturen von Picasso hoch geschätzt, die afrikanischen Vorbilder aber ignoriert, der westliche Aneignungsprozess stillschweigend akzeptiert.
Manchmal aber wird die Aneignung auch umgedreht. Seit Jahren recherchiert Kader Attia solche Formen, die ihm erstmals 1990 im Kongo auffielen: Ein Stoff war mit französisch anmutenden Stickereien dekoriert, eingearbeitet nicht als hübscher Zusatz, sondern um Mottenlöcher zu stopfen: „It is through repair that I believe non-Western cultures beginn to take back their liberties.“ (Artforum, August 2013). Attia spricht von „reappropriation of dispossessions“.  ´Zurückaneignung von Entwendetem´ könnte man diese Methode übersetzten, die auch der documenta-Arbeit zugrunde liegt. Die deformierten Holzköpfe basieren auf Fotografien verwundeter Soldaten des 1. Weltkrieges. Die von Kriegswunden zerstörten Gesichter waren mit chirurgischen Mitteln ´repariert´ worden. Die afrikanische Methode dagegen ist geradezu konträr, denn dort ist das Reparieren im selbstbewusste Hervorheben der Bruchstellen ein kreativer Akt, bei dem etwas Neues entsteht – ein Weg, der nicht nur in Afrika, sondern auch in Asien praktiziert wird. Zerbrochene Vasen werden in China mit Gold wieder zusammengefügt und steigen dadurch im Wert. Das westliche Modell ist genau umgekehrt: Es wird eine möglichst originalgetreue Verbesserung versucht, die in jedem Fall zu Wertminderung führt.
Seit 2012 verfolgt Kader Attia dieses Thema. 2013 zeigte er im MMK die „Repair Analysis“-Wandobjekte. Da sind die Bruchstellen eines Spiegels mit einer fetten, groben Naht aus Kupferdraht geflickt, die nicht nur quer über die Fläche, sondern auch über unser sich darin spiegelndes Gesicht verläuft. In seiner neuesten Serie zeigt er weiße Leinwände, in denen ein Riss mit weißem Garn zusammennäht ist – kaum sichtbare Verletzungen, die trotzdem jedes andere Bildmotiv erübrigen. Anlässlich seiner großen Ausstellung „Reparatur. 5 Akte“ in dem KW Institute of Contemporary Art, Berlin 2013, erklärte er in einem Interview, dass jedes System von Leben auf einem endlosen Reparieren basiere (Ellen Blumenstein in www.universes-in-universe.org). Wiederherstellen bedeute immer auch, neue Verbindung zu schaffen, zwischen Kulturen, Zeiten, Objekten. „In my understanding, everything can be conceptually understood as based on repairs from culture to nature, from the political to the metaphysic.“
Dieses Thema auf der documenta in der ehemaligen Zonenrandstadt Kassel und später in der ehemals geteilten Stadt Berlin zu zeigen, hat aber auch eine spannende, politische Dimension. Das Motto der documenta 13 war ´Zusammenbruch und Wiederaufbau´ und in Attias Installation konnte man sich fragen, was ´reappropriation´ auf politischer Ebene bedeuten könnte: Wie hätte das Zusammenführen des geteilten Deutschlands anders verlaufen können? Wie kann Vereinigung und auch Wiederaufbau so angelegt werden, dass die Erinnerung an den Prozessverlauf nicht nur bewusst sichtbar wird, sondern auch zu einem Mehrwert führt? Welche Narben zeigt die Stadt Berlin, welche ´Zurückaneignung von Entwendetem´ können nachverfolgt werden, wo ist in Berlin ein neuer Wert durch Reparatur entstanden? Im Bereich des Design ist darauf schon eine Antwort gefunden, der sogenannte „Berlin Style“ ist weltweit zu finden: eine Ästhetik der Improvisation und Reparatur, in der Altes weiterverwendet wird. Im Bereich der Politik stehen die Antworten noch aus.

veröffentlicht in: Kunstforum Bd. 236, Okt-Nov. 2015