Poeten im Gefängnis – Kulturhauptstadt Mons

23. Nov. 2015 in News

Stadtgefängnis Mons

Stadtgefängnis Mons

Es kommt selten vor, dass ein reguläres Gefängnis zum Schauplatz eines Kulturhauptstadt-Projektes wird. Bis zum Terroranschlag in Paris konnten ausgewählte Besucher eine Tour in die Zelle 252 des Stadtgefängnis in der kleinen, belgischen, eine Zugstunde nördlich von Brüssel gelegenen Stadt Mons machen. mons KopieMons ist europäische Kulturhauptstadt 2015. Bisher punkteten diese Veranstaltungen eher mit prächtigen Neubauten und spektakulären Programmen. 1985 ins Leben gerufen, dient das Format einerseits dazu, Städte bekannt zu machen und den Tourismus anzukurbeln. Andererseits soll die vage Idee einer europäischen Kultur dadurch Kontur bekommen. Vor allem aber sollen wirtschaftliche und soziale Entwicklungen initiiert werden, heißt: den Stolz der Bevölkerung erhöhen, Investoren ansprechen und kulturelle Infrastruktur verbessern. Darauf setzten auch schon zwei österreichische Städte: Graz 2004, Linz 2009. In beiden Städten wurden neue Kulturorte errichten, in Linz das Image von einer faden Industrie- zu einer dynamischen Kulturstadt hin verändert – und dieser neue Ruf hält bis heute. Denn Kunst ist nicht nur Investitionsware, sondern auch ein höchst brauchbares Werkzeug für konkrete Veränderungen.

Kongresszentrum v. Daniel Libeskind

Kongresszentrum v. Daniel Libeskind

Auch Mons setzt auf Kultur, baute mithilfe der 300 Millionen EU-Fördergelder ein Kongresszentrum und fünf neue Museen, darunter eines für die beiden Weltkriege, für die neolithische Zeit und eines für Volkskunst. Dazu wurden mit einem Gesamtbudget von 70 Millionen Euro im gesamten Jahr 300 Projekte, darunter 45 Ausstellungen, inszeniert.

Ein heiliger Georg for Luc Tyumans "St. George"

Ein heiliger Georg for Luc Tyumans „St. George“

Gerard Loyet, c. 1467-71

Gerard Loyet, c. 1467-71

Die zentralen Projekte setzen auf einen Heiligen und zwei Künstlern: der drachentötende Sankt Georg, der Dichter Paul Verlaine und der Maler Van Gogh. Der Drachenkampf wird jedes Jahr in Mons im „Doudou“-Volksfest aufgeführt. Jetzt sind Mengen von künstlerischen Darstellungen dieses wagemutigen Heiligen im Museum in der ehemaligen Zechenanlage ´Grand Hornu´ versammelt: Immer wieder sticht da Georg von seinem Pferd herunter auf ein kleines, aber bedrohliches Wesen. Konzentriert auf Werke seit dem 15. Jahrhunderts ist es beeindruckend, wie facettenreich die Darstellungen sind. skulptur KopieÜberraschend endet der Parcours dann mit einem fast abstrakten, zeitgenössischen Werk: die zwei Meter lange Zeichnung einer Stirn von Guiseppe Penone.

Guiseppe Penone, 2015

Guiseppe Penone, 2015

Georg und sein Drache dienten Künstlern zwar jahrhundertelang als Motiv, er ist bis heute Schutzheiliger vieler Städte – aber tatsächlich hat das Paar immer nur in unserer Vorstellung existiert.

Grand Hornu

Grand Hornu

Das in neoklassischer Architektur gebaute Bergwerk Grand Hornu entstand 1830. grandHornu2 KopieSeit dem Ende des Kohleabbaus vor rund fünfzig Jahren verfiel nicht nur das Gelände, sondern die ganze Region. Mit den Projekten der Kulturhauptstadt wird jetzt der Stolz auf die Geschichte revitalisiert und die Region umgewertet. Darum sind hier auch Institutionen im Umland einbezogen, etwa in der Arbeiterstadt Charleroi.

BPS22, Charleroi

BPS22, Charleroi

Dort zeigt das Museum BPS22 in einer ambitionierten Ausstellung, wie Hochkultur mit Volkskunst verwurzelt ist wie in Carsten Höllers zeitlupenlangsamen Karussell oder in Ghada Amers gestickten Bildern.

Yinka Shonibare, Carsten Höller

Yinka Shonibare, Carsten Höller

Erstaunlich nah an die Realität dagegen rücken die zunächst so trist wirkenden schwarz-weiß-Fotografien von Stephan Vanfleteren im renommierten Fotografie-Museum: Die Menschen, die Straßen, die Welt ist desolat, schmutzig, ärmlich.

Stephan Vanfleteren

Stephan Vanfleteren

Aber dann entdeckt man, dass in jedem Bild ein Licht wie ein Hoffnungsschimmer eine bessere Zukunft verspricht.
Die Hauptprojekte dieses Kulturhauptstadtjahres jedoch finden in Mons statt und stellen zwei Künstler in den Mittelpunkt: Der niederländische Maler Vincent Van Gogh, der ursprünglich Priester werden wollte und gegen den Willen seiner Eltern als Laienprediger nach Belgien ging. Hier erinnerte ihn sein Bruder an seine Leidenschaft für die Kunst. Mit seinen ersten, oft wenig geschickten Zeichnungen von Minenarbeitern und bescheidenen Hütten begann van Goghs Karriere also in Mons, war die etwas gewagte These der großen Van Gogh-Ausstellung Anfang des Jahres, die nicht die Meisterwerke, sondern die Künstlerwerdung zeigte. Noch kurioser ist Paul Verlaine mit der kleinen Stadt verbunden: Der französische Dichter reiste mit seinem jungen Geliebten Arthur Rimbaud durch Belgien. In Mons gerieten sie in Streit, Verlaine schoss auf Rimbaud und verletzte ihn an die Hand. verletzte_rimbaud KopieDer lieferte ihn an die Polizei und Verlaine musste 555 Tage in der Zelle 252 im Gefängnis von Mons sitzen. Die Geschichte dieser leidvollen Liebe zwischen dem damals erst sechszehnjährigen Rimbaud und dem bis zu seinem Lebensende 1896 so oft betrunkenen Verlaine wird in einer umfangreichen Austellung im Museum BAM mit Handschriften der beiden Dichter, historischen Gerichtsprotokollen und Fotografien erzählt.
lyrikWände KopieParallel dazu sind überall in der Stadt Gedichtzeilen auf Häuserwänden und Straßen geschrieben. Die stammen von verschiedenen Lyrikern aus der Zeit Verlaines. Auch die Mauer des mittlerweile zwar historischen, aber mit 500 Insassen vollbesetzten Gefängnisses ist Träger poetischer Zeilen. Davon hörte die US-amerikanische Musikerin Patti Smith, reiste spontan nach Mons, besuchte das Gefängnis, diskutierte mit den Gefangenen die Kraft der Lyrik und sang spontan ihren großen Hit „Because the Night“. Beeindruckt von dem Besuch schrieb sie anschließend ein Gedicht, dass jetzt außen auf der Gefängnismauer fixiert ist – 98 Zeilen, „Wunden“, wie sie es nennt. Das letzte Wort lautet „shot“.

Patti Smiths "98 Wunden"

Patti Smiths „98 Wunden“

pattiSm_zeilen KopiePatti Smith war der letzte Gast in der Haftanstalt. Denn seit den Anschlägen in Paris gilt hier höchste Sicherheitsstufe. Hier saß einer jener Attentäter ein, die am Anschlag auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo beteiligt waren. Man vermutet eine radikale Zelle – die Kraft der Poesie ist von der Wirklichkeit entmachtet. Aber das tut den Projekten der Kulturhauptstadt Mons keinen Abbruch.

Denn auch ohne den Blick hinter die Mauern hinterlassen die Ausstellungen einen bleibenden Eindruck – nicht zuletzt, weil es hier eine Kulturhauptstadt wagt, kuriose Fußnoten ins Zentrum rückt.