Lebende Tiere in der Kunst – unsolide & museal

10. Nov. 2021 in Ausstellungen

Anne Imhof, Faust, Deutschland Pavillon Biennale Venedig 2017. Foto SBV

Anne Imhof, Faust, Deutschland Pavillon Biennale Venedig 2017. Foto SBV

Er erklärte einem toten Hasen die Kunst, betitelte eine lose Anordnung skulpturaler Elemente „Hirschdenkmäler“ und skizzierte immer wieder Schwäne – im Werk von Joseph Beuys spielen Tiere in der Kunst eine entscheidende Rolle. Das ist an sich nichts Besonderes. In der gesamten Kulturgeschichte der Menschen finden sich Darstellungen von Tieren, von der Prähistorie bis zur Gegenwart. Die Menschen lieben es, sich Studien exotischer, aber auch bestens bekannter Wesen anzuschauen und menschliche Eigenschaften auf Tiere zu übertragen. Bei Beuys aber werden Tiere zu Dialogpartnern. Höhepunkt dieses Konzepts ist seine Aktion „I like America and America likes me“ in der New Yorker Galerie von René Block. Eingewickelt in eine Filzdecke, in der Hand ein langer Stab, verbringt Beuys drei Tage mit einem lebendigen Koyoten. Der – übrigens eigens für Menschennähe gezüchtete – Präriewolf gilt Beuys als erster ´Amerikaner´, mit dem er in Kontakt tritt, aber auch als Stellvertreter für Spirituelles, mit dem er eine „Versöhnung“ sucht. Die Aktion findet 1974 statt, in einer Zeit, in der Tieren in der Kunst plötzlich eine völlig neue Rolle zukommt: Tiere in der Kunst sind nicht mehr Objekt der Darstellung, sondern Subjekt einer Inszenierung. Lebendiges Subjekt. Partizipativer Akteur statt Statist.
Dieser Schritt von lebensechter Darstellung zu leiblicher Präsenz beginnt in den 1960er Jahren. Möglich ist das durch die neuen Kunstformen der Aktionen und Happenings – und dank einer Atmosphäre, die anders als heute radikale Kunst zulässt. Eine Schockerfahrung präsentiert Ay-O (Takao Iijima) 1962 seinem Publikum in der New Yorker Gordon Gallery, als er ein lebendes Huhn unter eine Guillotine legt. Robert Rauschenberg dagegen sucht mit lebendigen Tieren ein „höheres Maß an Unvorhersehbarkeit“ (Rauschenberg Foundation) zu erreichen, 1965 bindet er Schildkröten Taschenlampen auf den Panzer, die sich im Dunklen im Raum bewegen, oder integriert 1966 fünf Hühner in seinen 16 mm-Film „Linoleum“. Hans Haacke legt es sachlich an, wenn er in „Chickens Hatching“ (1969) Küken in akkurat angeordneten Brutkästen ausschlüpfen oder in „Goat Feeding in Woods“ (1970) eine Ziege im Museumsgarten der Fondation Maeght weiden läßt. Ihn interessieren Realzeitläufe, er wolle „etwas machen, das auf seine Umwelt reagiert, sich verändert, unsolide ist“, formulierte Haacke es 1965, „etwas, das in der Zeit lebt“.
Sind es die unerwarteten Kontextverschiebungen, die uns an den lebenden Tieren in der Kunst faszinieren? Die Lebendigkeit, Unmittelbarkeit der Wesen, die starke Emotionen auslösen? Tiere in der Kunst garantieren eine intensive Erfahrungsebene. Und eine größtmögliche Realitätsnähe. Beides kann als konsequente Weiterführung der Pop Art gelesen werden: Im Bestreben, Kunst und Alltag zu verbinden, wird auch die Grenze zwischen täglichem Leben und belebter Natur durchbrochen. Wenn Beuys einem – toten – Hasen die Kunst erklärt, wird das Animalische auf dieselbe Ebene gestellt wie die Kultur. Das gilt auch für die Aktion des Künstlerduos Helen Mayer & Newton Harrison, die 1971 ein Schwein in einer Miniatur-Landschaft im Boston Museum of Fine Arts leben lassen wollten. Das konnte damals nicht realisiert, aber 2012 im Museum of Contemporary Art Los Angeles nachgeholt werden. Das Schwein lenke die Aufmerksamkeit der Besucher „auf eine sinnvolle Weise“, erklärte Mayer Harrison lapidar. Im selben Jahr läßt Dennis Oppenheim 12 scharfe, an Pfosten angekettete Polizeikunde das Gelände des Boston Museum of Fine Arts bewachen, der Titel: „Protection“.

Jannis Kounellis, o.T., 1969. Courtesy Jannis Kounellis

Jannis Kounellis, o.T., 1969. Courtesy Jannis Kounellis

Es sind radikale Zuspitzungen, die damals dem Publikum geboten werden. Manche sehen darin eine Gegenbewegung zur Abstraktion in der Kunst, zum Anti-Naturalismus der Avantgarden, sprechen von einem neuen Naturalismus. Andere vermuten in den Tieren überraschende Formen von Ready Mades – lebendige Wesen als neues Kunst-Material. Dem scheinen Jannis Kounellis Werke recht zu geben, wenn er 1967 einen roten, lebendigen Papageien vor ein graues Bildfeld setzt oder mit Fischen in Aquarien zu neuen Bildschaffungen findet. Höhepunkt seiner Kunst mit lebenden Tieren ist die berühmte Ausstellung „Dodici Cavalli vivi“ in der Galleria L´Attico: er bindet 1969 12 schwarze und weiße Pferde an die Wand. Inszenieren seine US-amerikanischen Kollegen bedrohliche bis verstörende Situationen, so zielt Kounellis auf ein harmonisches Miteinander, auf eine ästhetische Situation, in der das Lebendige für einen Überraschungsmoment sorgt und den Kunstgenuss steigert. Ob Schock oder Schönheit, gemeinsam ist beiden Strategien, dass es nicht um die Anschauung der Tiere geht, sondern um ihre Position innerhalb des Gesamtarrangements.
Ab den 1980er Jahren verebbt das Interesse an lebendigen Wesen in der Kunst, bis Carsten Höller und Rosemarie Trockel auf der documenta X 1997 im Orangerie-Garten ein „Haus für Schweine und Menschen“ inszenieren. Das erscheint wie der Auftakt einer neuen Entwicklung. Denn jetzt sind die Rollen neu verteilt: die Schweine leben ihr Leben dort ungestört. Es steht die Rollenbefragungen – der Tiere und der zuschauenden Menschen – im Fokus. Tiere in der Kunst werden zum „Vergleichsmaßstab für das Menschsein“, wie es Thomas Zaunschirn im Kunstforum Bd. 174/2005 schon vorausahnend formuliert, für ein neues Verständnis von Natur, in der der anthropozentrische Blick der Menschen auf die Welt aufgelöst werden kann. Ob Pierre Huyghes weiße Windhündin „Human“ mit ihrem rosa Vorderbein in den Kasseler Auen auf der documenta 13 2012, Carsten Höllers Rentiere im Hamburger Bahnhof 2011 oder die Hunde in Anne Imhofs Biennale Venedig-Beitrag 2017 – immer wird ein Dialog zwischen Mensch und Natur inszeniert. Es ist eine ontologische Aufwertung der Tiere. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz postulierte einmal, dass der Weg zum Verständnis des Menschen über das Verständnis des Tieres führe. Beuys spricht von Tieren als „Engelswesen“. In beiden Fällen stehen die Tiere für eine Absage an den objekthaften Blick. Als Akteure in Kunstwerke ermöglichten sie es, eine intersubjektive, ontologisch äquivalente Beziehung zu anderen Wesen aufzubauen – ein Weg, wie es Beuys schon postulierte, um sich mit dem Anderen zu versöhnen.

veröffentlicht in: NZZ, 5. Juni 2021