Indische Kunst als neuester Kunstmarkttrend

04. Okt. 2008 in Kunstmesse

Auf Auktionen erzielen die Werke der indischen Kunst Höchstpreise, namhafte westliche Museen zeigen Überblicksausstellungen, vielbeachtete europäische Sammler steigen in den neuen Markt ein, der renommierte britische Kunstpreis „Artes Mundi“ ging gerade an den indischen Maler N.S. Harsha und die spanische Kunstmesse ARCO lädt Indien nächstes Jahr als Gastland ein – woher kommt plötzlich dieses Interesse an der indischen Kunst?

I.

Vierzig Jahre schlief der Subkontinent vor sich hin. Sozialismus nach dem Vorbild der Sowjetunion und ein wirtschaftlicher Autarkie-Anspruch hatten Indien dann Anfang der 90er Jahre in eine verheerende Finanzkrise schlittern lassen. Als viertgrößter Schuldner der Welt lieh nur noch der Internationale Währungsfond weitere Gelder – und verlangte dafür vor allem die Öffnung und Liberalisierung des indischen Marktes.

So beschloss die indische Regierung 1992 das Ende der Planwirtschaft. Damit beginnt eine Entwicklung, die zu einem gänzlich neuen Indien-Bild geführt hat: Mit seinen starken wirtschaftlichen Wachstumsraten gilt das Land heute nach China als Zukunftsmarkt mit höchstem Potential – und das spiegelt sich auch in der zeitgenössischen Kunst wieder. Schon Mitte der 90er Jahre starten erste Auktionen mit indischer Kunst der Moderne in London und New York. Bis zur Jahrtausendwende konzentriert sich der junge Markt dabei auf die Künstler der 1947 gegründeten „Progressive Artists Group“ (mit F.N. Souza, K. H. Ara, S.H. Raza, M.F. Hussain), deren Werke 2003 erstmals die $ 100.000,- Marke überschritten.

Ungefähr in jenem Jahr setzt auch ein vorsichtiges und vereinzeltes Interesse westeuropäischer Kunsthäuser an der bisher nahezu unbekannten indischen Gegenwartskunst ein. Ob „Kapital & Karma“ 2002 in der Kunsthalle Wien, „Urban Manners“ 2004 im Hangar Bicocca in Mailand, „Indian Summer“ in der Ecole Nationale Superieure des Beaux Arts in Paris 2005, „Horn Please“ in der Kunsthalle Bern 2007 oder ab November im Mori Art Museum in Tokio: Am Beginn des neuen Jahrtausends ist die indische Kunst der neueste Boom.

II. Indische Superstars

Nicht nur die Institutionen verbinden sich mit Indien. Auch private Sammler ziehen mit, von Enrico Navarra in Paris über die Briten Charles Saatchi und Frank Cohen. Seit zwanzig Jahren fährt Cohen nach Indien. Die meiste Zeit, so erklärt er, habe er nur Miniaturen gekauft, seit zwei Jahren sammelt er jetzt zeitgenössische Kunst. Was die junge indische Kunst auszeichne, sind laut Cohen die „Kombinationen verschiedener westlicher Einflüsse bei Bewahrung der eigenen Traditionen.“ In seinem Ausstellungshaus „Initial Access“ in Wolverhampton, nördlich von London, zeigt Cohen gerade seine Neuankäufe: Werke der indischen Superstars Atul Dodiya, Subodh Gupta, Jitish Kallat, Bharti Kher, Ravinder Reddy, Sudarshan Shetty.

Guptas Skulpturen aus Edelstahl-Töpfen, Khers lebensgroße Baby-Elefanten und Reddys riesige, blaue Köpfe mit den großen Augen fungieren bereits als Erkennungszeichen einer neuen Künstlergeneration, die Indien im Moment des Umbruchs thematisieren. Wie in kaum einer anderen Kunstszene treffen in der indischen Gegenwartskunst Tradition und Jetztzeit aufeinander, wenn N. S. Harsha Elemente der klassische Miniaturmalerei in seinen großartigen Bildern zu gesellschaftskritischen Universen ausbaut; wenn die documenta 11-Teilnehmerin Sheela Gowda religiöse Motive in ihre Werke einbaut oder Jitish Kallat Elemente des Sozialistischen Realismus mit einer zeitgenössischen Bildsprache vermischt. Der mediale overkill, das turbulente Treiben in den Großstädten, die ungeheure Gleichzeitigkeit von allem ist das Thema seiner plakativen, collagenhaften Bilder und Installationen, wenn sich in der Serie „Carbon Milk“ Menschen, Autos und Alltagszeug zu Haarbergen indischer Kinder auftürmen oder Kallat mit seiner Riksha „Sweetopia“ in Form eines Skeletts eine Art Ikone dieser Zeit des Aufbruchs geschaffen hat.

III. Künstlerinnen zwischen Tradition und Postmoderne

In diesem Spektrum sind auffallend viele großartige Künstlerinnen: die erzählerischen Bildern der 1946 geborenen Malerin Nalini Malini, die sich als eine der ganz wenigen Frauen schon früh in der männerdominierten Sparte behaupten konnte, Ayisha Abrahams Werke rund um Postkolonialismus und Migration, die erotischen Zeichnungen von Mithu Sen, die Cindy-Sherman-ähnlichen, schwarz-weiß-Fotografien Pushpamala´s oder auch Hema Upadhyays ornamentale Zeichnungen rund um Genderfragen. Immer wieder sind es Themen des Alltags, die mit religiösen Verweisen und nationaler Symbolik aufgeladen sind, die diese Werke einerseits ´indisch´ wirken lassen und andererseits weit über den nationalen Kontext hinaus verständlich und wirksam werden lassen.

Manches bleibt allerdings für uns befremdlich. Einhundert Jahre Moderne haben uns auf Abstraktion und Reduktion, auf Traditionsbruch und Kunst-über-Kunst-Thematisierung eingeschworen. Aber gerade mit so traditionellen Materialien wie Haare, Steine, Knochen vermögen es Künstlerinnen wie Sakshi Gupta oder Shilpa Gupta, brisante Gegenwartsthemen anzusprechen. Die religiösen Details etwa werden als subversive Elemente eingesetzt, darin an jenes einschneidende Ereignis anknüpfend, das ebenfalls 1992 stattfand und von vielen KünstlerInnen als politischer Wendepunkt und zugleich Beginn der zeitgenössischen Kunst genannt wird: Am 6.Dezember 1992 zerstörte ein organisierte Menschenmenge radikaler Hindus die Babri-Moschee in Ayodhya. 1528 auf den Grundfesten eines von den muslimischen Eroberern zerstörten Hindu-Tempels errichtet – der Legende nach soll hier der Gott Rama geboren sein – ist die Moschee bis heute der Inbegriff religiösen Fundamentalismus.

IV. Indische Kunstmarkt

Solche Themen lassen es bereits ahnen: Der Boom der indischen Kunst hat nicht mithilfe Schweizer Botschafter oder ausländischer Kuratoren begonnen. Anders als der  chinesische Kunstmarkt entstand hier zunächst ein reiner Binnenmarkt. 2006 setzte Christie´s mit moderner indischer Kunst über 17 Mio., Sotheby´s mit zeitgenössischer nahezu 2 Mio. um und das indische Auktionshaus Saffronart erzielte gerade mit seiner März-online-Auktion 7.15 Mio US-Dollar. Kaum ein Werk der Zeitgenossen ist unter $ 50.000,- zu erwerben. Die Käufer sind meist NRI (non residental indians) in New York und London, die mit der Kunst ihre kulturelle Identität bestärken und die Preise auf online-Auktionen in die Höhe treiben. So ging Subodh Guptas nur einen Meter große Edelstahl-Töpfe-Skulptur in Dreierauflage bei Saffronart gerade für das Dreifache weg: Rufpreis $ 60.000,- , Verkaufspreis $ 209.875,-.

V. Stiftungen

Auf staatlicher Ebene ist von diesem Boom allerdings nichts festzustellen. Im Gegenteil: Annapuma Garimella, Direktorin des Research & Design-Büros „Jackfruit“, erklärt, dass die indische Regierung noch immer ihre weltweiten Botschaften mit „traditional modern art“ ausstaffiert – nicht als Exportschlager wie in China, sondern zur Unterstützung der „ethnic identity“. Auf dem Subkontinent werden über 14 Sprachen gesprochen, traditionelle Kunst und Kunsthandwerk dienen als nationaler Kitt, zeitgenössische Kunst wird weitgehend ignoriert. Zwar existieren in Indien Kunstakademien, aber kaum staatliche  Ausstellungsmöglichkeiten. Die Nationalgalerien sind verstaubte Häuser, Kunsthallen oder ähnliches gibt es nicht, die Lalid Khali Academie, Organisator und Hauptaustragungsstätte der India Triennale, zeigt meist religiös-traditionelle Werke und international bekannte Künstler wie Vivian Sundaram oder RAQS Media Collective sucht man erfolglos in den nationalen Museen.

Stattdessen entsteht in atemberaubendem Tempo in den letzten Jahren eine neue Struktur aus Galerien, Stiftungen und Privatmuseen. Indiens wichtigster Sammler Abhishek Poddar und seine Mutter Lekha werden im August dieses Jahres in New Delhi ein Haus für ihre „Devi Art Foundation“ eröffnen. Die von Delhis alteingesessener Galerie bzw. Familie Vadehra finanzierte FICA-Foundation vergibt Preise für junge KünstlerInnen, initiiert public art-Projekte und plant ebenfalls ein eigenes Museum. Ob in New Delhi, Mumbai oder Bangalore, in Singapur, New York oder London, und seit Mai mit der Galerie Bodhi Art auch in Berlin – die indische Kunst boomt.

veröffentlicht in: NZZ, 4.10.2008