Labor Europa, Straßburg

22. Jan. 2018 in Ausstellungen

Vue d’une salle du musée des Beaux-Arts de Strasbourg vers 1900 © Musées de Strasbourg, Foto M. Bertola

Vue d’une salle du musée des Beaux-Arts de Strasbourg vers 1900 © Musées de Strasbourg, Foto M. Bertola

Straßburg, Jahrhundertwende. Seit 1871 ist die Stadt unter deutscher Besatzung. Nach dem Ersten Weltkrieg endet diese Phase. Lange wurde diese Zeit in Frankreich als ungeliebte historische Episode ignoriert. Jetzt wirft eine große, über die Stadt verteilte Ausstellung einen neuen Blick darauf: Die damalige Zwangsbeglückung wird als visionäre Aufbruchsstimmung umgedeutet. Obgleich regional angelegt, enthält „Labor Europa, Straßburg 1880-1930“ einen weittragenden Kern. Denn es demonstriert erstaunlich klar, wie sehr Politik die Kultur dominierte – und das gilt erstens überregional und zweitens bis heute.

Aubette 1928. © Musées de Strasbourg, M. Bertola

Aubette 1928. © Musées de Strasbourg, M. Bertola

Fünf Jahre Vorbereitungszeit steckte Chefkurator Roland Recht in das Projekt „Labor Europa“. In dem Titel steckt die Andeutung, dass die kleine Stadt im Elsass damals die Rolle eines Vorreiters der Europäischen Union einnahm. Tatsächlich gab es bereits 1922 erste Versuche einer paneuropäischen Union, deren Zentralsitz allerdings in Wien war. Die EU beginnt erst 1957 mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Wird in den Künsten um die Jahrhundertwende wirklich die Idee einer friedlichen Vernetzung mit gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen vorweggenommen, gar die Vision einer europäischen Identität? Der Kunstmarkt war schon immer international orientiert, aber waren es die Museen und die Privatsammler auch? Als die Deutschen Straßburg eroberten, gab es dort bereits eine umfassende Kunstsammlung, die im Krieg 1870 zu 90 Prozent zerstört wurde. Mit der Besatzung begannen die Deutschen dann gezielt, durch Neuaufbau die kulturelle Identität umzufärben. Die Künste dienten dabei als Mittel zur Geschmacksbildung des Bürgertums: In der Zeit von 1870 bis 1929 fanden in Straßburg 820 Aufführungen von Richard Wagners Werken statt, davon nach Ende der Besatzung 1919 nur noch 18. Ein probandes Mittel waren auch Stipendien, mit denen Künstler aus dem annektierten Elsass deutsche Kunstakademien besuchten konnten – ein interessanter Aspekt, unter dem die heute so beliebten Auslandsstipendien einmal untersucht werden könnten.

Charles Spindler (1865-1938), Salon de musique, Paris, 1900, Exposition universelle. Photographie, 1900 (Archives privées)

Charles Spindler (1865-1938), Salon de musique, Paris, 1900, Exposition universelle. Photographie, 1900 (Archives privées)

Dadurch lernte etwa der gebürtige Straßburger Charles Spindler in München und Berlin die Kunstentwicklungen Symbolismus und Realismus kennen, die er in seinen Möbeln und Interieurs mit Elementen regionaler französischer Traditionen verband. Die auf vielzählige Sammlungen verteilten Einzelteile seines Musikzimmers für die Weltausstellung 1900 in Paris und das Esszimmer für Turin 1902 konnten für Straßburg erstmals wiederhergestellt werden und zeigen eindrücklich, wie in dieser Kunst parallele Wirklichkeiten zusammenfinden, wenn die Form von Bauernmöbeln mit modernistischen Elementen verbunden wird und dazu auf der Holzvertäfelung mithilfe von Intarsien traditionelle Riten dargestellt werden.

Le Greco, « Portrait » de la Vierge, autrefois appelé Mater Dolorosa

Le Greco, « Portrait » de la Vierge, autrefois appelé Mater Dolorosa

Das langfristigste Instrument der Politik aber waren – und sind – die Museen: In knapp drei Jahrzehnten entstanden das Kupferstichkabinett, Museen für Kunstgewerbe, Archäologie und vor allem für die Schönen Künste. Leiter war Wilhelm Bode, Direktor der Berliner Museen, der die Sammlung ganz im Sinne der Deutschen anlegte. Ab 1890 kaufte er innerhalb von 22 Jahren 511 Gemälde für das neue Museum an, deren Schwerpunkt klar auf Werken der italienischen Renaissance, die Malerei Nordeuropas und „altdeutscher“ Kunst lag. „Für die Hauptstadt einer großen Provinz wird darauf zu halten sein, dass die Bilder ihrer Mehrzahl nach gefällig und allgemein verständlich sind“, erklärte er einmal. Aus seinen Briefen geht auch hervor, dass er damals keine langen Wege über Gremien und Jurys einhalten musste, sondern beim Kauf nicht lange zögerte. Nicht jedes Werk begeisterte ihn gleichermaßen, eher geringschätzig orderte er an, El Grecos „Portrait einer Jungfrau“ nicht nach Berlin, sondern Straßburg zu geben. 1919 wurde die Stadt dann wieder französisch – eine radikale Veränderung, die sich sofort unübersehbar in der Museumssammlung widerspiegelt: Unter dem neuen Direktor Hans Haug wurden nur noch französische Künstler angekauft. Dass diese Entscheidung keine individuelle Setzung war, ist in der Ausstellung im auf Musik konzentrierten Rohan-Schloss abzulesen: Ab 1919 waren Orchester und Theater verpflichtet, nur französische Werke zu spielen.

Heinrich Campendonk, Wirtshausscene, 1919, Crayon, gouache et huile sur carton épais, 71,7 x 53,5 cm, Strasbourg, Musée d’Art moderne et contemporain © Musées de Strasbourg © Adagp, Paris 2017

Heinrich Campendonk, Wirtshausscene, 1919, Strasbourg, Musée d’Art moderne et contemporain. © Musées de Strasbourg © Adagp, Paris 2017

Aber prägte der politische Einfluss nur die Museumssammlung oder auch die Privatsammlungen? Und wie lange wirken solche Entscheidungen nach? Offenbar lange, denn bis immerhin 1938 kaufte die Direktorin des Grafikkabinetts neben französischen Künstlern immer wieder zentrale Werkserien des deutschen Expressionismus an, großartige, sozialkritische Blätter von Käthe Kollwitz, Erich Heckel und Max Beckmann, die das harte Leben der Menschen zeigen. Das war trotz der angeordneten französischen Ausrichtung möglich, weil die Akquisitionen von Druckgraphik weniger scharf kontrolliert wurden. Und im Privatbereich? Da gab es Sammler, die sich von Museumsdirektor Bode beraten ließen wie der Buchhändler Karl Trübner. Der gebürtige Deutsche vermachte 1908 dem Museum 14 Gemälde, darunter ein Frühwerk des italienischen Meisters Sandro Botticelli und viele Niederländer. Andere übersetzten Bodes Einfluss experimentierfreudiger. Sie ignorierten die nach 1919 in Straßburg dominierende Polarisierung zwischen deutscher und französischer Identität und entschieden sich für einen dritten, tatsächlich europäischen Weg.

Aubette,1928. Musées de Strasbourg, Foto M. Bertola

Aubette,1928. Musées de Strasbourg, Foto M. Bertola

Als die Brüder Horn das historische Gebäude Aubette in ein Vergnügungszentrum umbauten, beauftragten sie die Schweizer Künstlerin Sophie Taeuber. Die Malerin lud ihren Ehemann Hans Arp und den niederländischen Architekten Theo van Doesburg dazu. 1928 wurde das einzigartige Gesamtkunstwerk eröffnet – ein Meisterstück der Moderne, das zwar Ende der 1930er Jahre verändert, verdeckt und zerstört wurde, heute dank der Rekonstruktion jedoch teilweise wieder steht. Und dank der Kombination von Kunst und radikalem, bis hin zu Türklinken und Aschenbecher umfassenden Designs als Paradebeispiel der Moderne gilt.
Was „Labor Europa“ in einem Mikrokosmos aufzeigt, lässt sich ähnlich in der Sammlungsgeschichte vieler Museen beobachten. Am auffälligsten sind dabei sicher die nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem im deutschsprachigen Europa entstehenden Museen Moderner Kunst. Diese Sammlungen folgen einer klaren, politischen Ausrichtung: Es dominiert die transatlantische Achse, mit der US-amerikanische Kunst in die Geschichte eingeschrieben wird. Kunst aus Ländern hinter dem Eisernen Vorhang dagegen blieb ausgespart, kein Museum widersetzte sich der Politik des Kalten Kriegs. Und Werke aus China oder Naher Osten wurden höchstens in kunstgewerbliche Häuser aufgenommen. Das ändert sich erst seit wenigen Jahren, langsam und vorsichtig – und auch das spiegelt die politische Gesamtlage wider.
veröffentlicht in: Die Presse, 21.1.2018
(Ausstellung in Straßburg, 17.9.2017-25.2.2018)