Martin Walde: Clips of Slips

06. Mai. 2002 in Ausstellungen, Interview

„Clips of Slips“ im Salzburger Kunstverein: Drei Video- und zwei Diaprojektoren schiessen ununterbrochen Bilder an die Wand. In einem lusterartigen Konstruktion von der Decke hängend, ist jeder einzelne Apparat in permanenter Bewegung. Die Betrachter müssen sich mit den Bildern drehen und sehen doch nur einen flüchtigen Moment. Sieben Videofilme und 160 Dias zeigen 80 Situationen, die sich überlagern, an den Wänden entlanghasten und aggressiv auf die Betrachter einstürzen. Einige sind gezeichnet, andere fotografische Aninamtionen, wenige nachgestellt oder dokumentiert. Ein Mann geht eine Straße entlang. Er bewegt sich wie eine Krähe, fliegt mit ausgebreiteten Armen zwischen den Passanten und Autos. Ein anderer läuft mit einem merkwürdigen Gegenstand in der Hand durch die Strassen: ein halber Turnschuh – eine Handtasche? Zwischendurch läuft ein grotesker Sound, gesprochene Sätze in ungeheurem Tempo und nicht zu verstehen, die Silben scheinen sich zu neuen Worten zusammenzuziehen. Ein merkwürdiges Tröten begleitet den Blick aus einem Fenster. Trotz der nur ein, zwei Sekunden währenden Erscheinungen all dieser Szenen wird die Gemeinsamkeit bald klar: es sind alles höchst sonderbare Menschen, Ausnahmesituationen im städtischen Raum, eben jene Momente, die wenn nicht übersehen, dann möglichst schnell übergangen werden. In der aufdringlichen Gleichzeitigkeit rückt die Installation gefährlich nahe an Wahrnehmungsmechanismen. Solche Beobachtungen treffen oft erst mit Verzögerung ins Bewußtsein, legen sich über andere Gedanken und drängen nach vorne, überlagern Wahrnehmungen und werden schnellstens wieder zur Seite geschoben.

SBV: Was heißt „Clips of Slips“?
MW: Damit sind kurze Ausschnitte von Ausrutschern bezeichnet, aber nicht physische, sondern Freudianische. ´Ausrutscher´ im Sinne der Gesellschaft, nicht aus der Perspektive der Akteure.
Diese Videoinstallation basiert auf einer Serie, die ich seit 1990 verfolge. „Loosing Controll“ oder „Enactments“ thematisiert Situationen im öffentlichen Stadtraum – Bewegungen oder Choreographien von Außenseitern, von psychisch derangierten Menschen, von Obdachlosen. Die Serie entstand nicht aus einem Vouyerismus oder einem Interesse an diesen Menschen, sondern aus meiner Betroffenheit – weswegen auch die wenigsten Situationen mit Foto oder Film dokumentiert sind. Ich bin meinen Erinnerungen an die Erlebnisse eher aus dem Weg gegangen und hab erst nach einigen Jahren gemerkt, daß es eine Kontinuität dieser ungezielten Beobachtungen gibt. Daher sind die meisten aus meiner Erinnerung gezeichnet, zum Teil nachgestellt oder mit Fotos animiert. Die Mechanik des Roboters, der großen Videoinstallation, entspricht dieser Kontinuität und gleichzeitigen Verdrängung, sucht diesen Rhythmus umzusetzten.
SBV: Ist Deine Ausstellung im Salzburger Kunstverein die erste Präsentation dieser Serie?
MS: Es ist die erste raumfüllende Installation zu dieser Serie. Vorher habe ich die Zeichnungen gezeigt, in Japan, auf der documenta 10 usw. Aber der Kommunikationserfolg war sehr gering, nur wenige fanden einen Zugang. Offenbar erzeugt die Präsentation auf der Wand eine zu große Distanz. Aus dieser Erfahrung habe ich dann diese wesentlich körperlichere, involvierende und aggressive Umsetzung entwickelt. Zunächst dachte ich an einen Video-Schußapparat, der jetzt die Form dieses lusterartigen Roboters erhalten hat. Die ständige Bewegung der Bilder desorientiert die Betrachter, die einzelnen Szenen und Zugehörigkeiten sind in diesem permanenten Beschuß kaum zu decodieren, zu fassen.
SBV: Warum willst du den Einstieg in die „Enactments“ für die Betrachter erschweren?
MW: Manche sehen diese Szenen nie, andere haben dafür eine Offenheit. So oder so haben sie den Einstieg ja auf der Straße auch nicht anders, ebenso flüchtig. Warum soll ich da einen pädagogischen Effekt erzielen? Und dadurch, daß die Video-Installation eine künstliche Situation erzeugt, stellen sich auch andere Fragen als auf der Straße, in der die Leute unbewußt in solche Momente geraten und eigentlich schauen, daß sie grad durch die Stadt kommen.
SBV: Welche anderen Fragen stellen sich hier?
MW: Ich kann nur sagen, welche Fragen sich mir stellen. Der Erlebnispegel ist so verschieden, dass es immer eine Möglichkeit gibt, dem Unangenehmen dieser Momente zu entwischen. Eine Einsicht meiner mittlerweile über zehnjährigen Beschäftigung mit diesen Menschen ist, dass jegliche Ausgegrenztheit und Verrücktheit auf psychischen Problemen basiert, die oft zu Armut und Obdachlosigkeit führen. Aber der gesellschaftliche Umgang damit ist noch viel verrückter als das, was da passiert. Unsere Gesellschaft trägt nicht genug Sorge für jene, die sich in der Schule, in der Erziehung weniger gut anpassen können. Es gibt nachher kaum Auffangnetze. Deswegen waren die ganzen Zugänge der Kunst der letzten zehn Jahre komplett daneben – den Leuten irgendwelche Hütten oder Häuser oder Anzüge zu schneidern, mit denen sie überleben können. Ein völlig formaler, absurder Gedankengang, ein materialistischer Zugang! Nur psychologische Kompetenzen, und zwar ein ganzes Heer davon, könnte da mit der Zeit helfen.
SBV: Kannst Du kurz konkretisieren, von welcher Art von gesellschaftlicher Ausgegrenztheit zu sprichst?
MW: Nehmen wir ein Beispiel. Der Mann in Berlin von 1990. Der springt nackt in die U-Bahn, kahlrasiert, nur mit einer grünen Schürze bekleidet, und führt eine unglaubliche choreographische Leistung auf. Er putzt das Abteil durch und schreit und brüllt. Der lebt offenbar im U-Bahnbereich. Ich hab ihn jetzt zehn Jahre später wieder gesehen, mit einem selbstgeschneiderten Anzug aus karierten Decken. Man kann das nicht nur mit obdachlos oder nur mit verrückt bezeichnen. Mir fehlt die Sprache dafür – das ist eine eigene Existenz im Stadtraum.
SBV: Hast du diesen Mann fotografiert?
MW: Nein, aus der Erinnerung gezeichnet. Es gibt nur zwei, drei Fotos, die Menschen direkt dokumentieren. In zwei Fällen geschah das zufällig, zum Beispiel „Small Man“: ein Mann, der im naturhistorischen Museum vor dem Skelett eines Dinosauriers grinsend, auf der Stelle stehend, von einer Seite auf die andere wippt. Eigentlich hatte ich den gar nicht gesehen, ich hatte die Kamera ausprobiert. Das ist typisch – ich seh das nicht, grenzt das aus meinem Wahrnehmungsfeld aus und nehm das oft erst als Erinnerungs-Beam wahr.
Eine direkte Dokumentation entstand am Berlin Alexanderplatz, eine herumwildernde Kamerafahrt. Da war eine Frau, die lief wie wild hin und her – und ich gab ihr meine Kamera in die Hand. Aber das sind die Ausnahmen.
In einer Ausstellungsbesprechung im Standard von Anselm Wagner war sehr interessant, dass dies nicht verstanden wird. Der Text war sehr schön, aber die Frage, wie ich zu den Szenen komme, war ein gründliches Mißverständnis. Als würde ich mich, gerüstet mit Kamera, auf den Weg machen, um weiße Flecken von der Landkarte zu tilgen. Das ist nicht meine Intention. „Loosing controll“ oder „Enactments“ passiert deshalb, weil mir diese Beobachtungen oder Erinnerungen extrem unangenehm sind und das nachherige Aufzeichnen so etwas wie ein Verarbeiten des Problems ist.
SBV: Wie triffst du die Auswahl jener Szenen, die in die Installation Eingang finden?
MW: Manchmal ist es die Qualität der Choreographie, manchmal spielen Gegenstände eine Rolle, manchmal ist es ein rein kommunikativer Akt, in dem es nur ums Sprechen geht, schnell, oft unverständlich in einer eigenen Sprache, manchmal nur Bewegungen, wo einer dauernd geht und geht und wendet sich. Die alle formal in eine Verpackung zu bringen ist die große Herausforderung. Manche funktionieren als Einzelfoto, andere nur als Serie, als Erzählung oder als Sound oder animiert. Diese Technik, in einen realen Hintergrund zu zeichnen, habe ich entwickelt, um den Menschen wie einen Geist, wie eine unreale Erscheinung darzustellen und dazu etwas vom städtischen Hintergrund zu erfahren. Meine Zeichnungen können die Realität, die Atmosphäre der Stadt überhaupt nicht wiedergeben. In den „Clips of Slips“ habe ich die beiden Dinge kombiniert, die Atmosphäre der Stadt und die fast geisterhafte Erscheinung der Menschen. Die Kombination von Realität und Fiktion und psychischer Involviertheit kommt dann durch den Betrachter hinein.