Martin Walde im Kunstverein Salzburg

06. Mai. 2002 in Ausstellungen

Martin Walde, Clips of Slips
Salzburger Kunstverein 2002

I.
Mitten im leeren Raum des Salzburger Kunstvereins hängt eine lusterartige Konstruktion an der Decke. Mit mehreren Ebenen und Armen ausgestattet, läßt dieser „Roboter“ pausenlos drei Video- und zwei Diaprojektoren routieren. In Martin Waldes Videoinstallation stehen die Bilder nicht still wie ein Tafelbild auf der Wand. Sie nehmen nicht den einmal vorbestimmten Platz an der Wand ein wie ein Kinofilm oder eine Videoprojektion. Sie rennen die Wände entlang. Sieben Videofilme und 160 Dias zeigen 80 verschiedene Szenen. Sound mischt sich darüber, ineinander, verstummt. Martin Waldes Videoinstallation scheint uns mitten in eine ganz normale städtische Situation zu katapultiert, in der sich die Szenen, die Eindrücke fragmentieren, sich die Wahrnehmung der Menschen übereinanderlegt und gegenseitig konkurrenziert.

Einige Bilder sind gezeichnet, andere fotografische Animationen, wenige nachgestellt oder dokumentiert. Ein Mann geht durch eine Stadt. Er bewegt sich wie eine Krähe, segelt mit ausgebreiteten Armen zwischen den Passanten und über die Strasse. Ein anderer läuft mit einem merkwürdigen Gegenstand in der Hand durch die Strasse: ein halber Turnschuh – eine Handtasche? Zwischendurch läuft ein grotesker Sound, unverständliche Sätze in ungeheurem Tempo, die Silben scheinen sich zu neuen Worten zusammenzuziehen. Ein merkwürdiges Tröten begleitet den Blick aus einem Fenster. All diese Bilder stürzen gleichzeitig auf die Betrachter ein, die Lusterkonstruktion schießt die Szenen in den Raum und läßt sie die Wände entlang hasten. Die Betrachter müssen sich mit den Bildern drehen und sehen doch nur einen flüchtigen Moment. Aber trotz der nur ein, zwei Sekunden währenden Erscheinungen wird die Gemeinsamkeit bald klar: es sind alles höchst sonderbare Menschen, Ausnahmesituationen im städtischen Raum, eben jene Momente, die wenn nicht übersehen, dann möglichst schnell übergangen werden.

II.
„Clips of Slips“ nennt Martin Walde seine Salzburger Installation. „Damit sind kurze Ausschnitte von Ausrutschern bezeichnet, aber nicht physische, sondern Freudianische. ´Ausrutscher´ im Sinne der Gesellschaft, nicht aus der Perspektive der Akteure“ erklärt Walde den Titel. Die Installation basiert auf einer Serie, die Walde seit 1990 verfolgt. Erst „Loosing Controll“ genannt, 1997 in „Enactments“ umbenannt, thematisiert Walde hier auffällige Situationen im öffentlichen Stadtraum – „Bewegungen oder Choreographien von Außenseitern, von psychisch derangierten Menschen, von Obdachlosen“. Es sind Einzelsituationen, Einzelschicksale, die auf der sehr dünnen Grenze zwischen bewußtem und unbewußtem Akt passieren, zwischen Absicht und Verrücktheit, eine reale Irrealität, „ein blinder Fleck des Psychischen.“ „Diese Serie entstand nicht aus einem Voyeurismus oder einem Interesse an diesen Menschen, sondern aus meiner Betroffenheit. Ich habe erst nach einigen Jahren gemerkt, daß in diesen ungezielten Beobachtungen eine Kontinuität liegt. Daher sind die meisten aus meiner Erinnerung gezeichnet. Die Mechanik des Roboters, der großen Videoinstallation, entspricht dieser Kontinuität und gleichzeitigen Verdrängung, sucht diesen Rhythmus umzusetzen.“

III.
Martin Walde arbeitet fast durchgehend in Serien. Dahinter steckt kein Kalkül. Das ergibt sich aus seiner Arbeitsweise. Keine Serie ist bisher abgeschlossen worden, die Grenzen untereinander sind bisweilen fließend. Die „Grüntransformationen“ begann Walde 1988. Unterteilt in weitere Serien gehören hierzu die „natures own flexible facsimiles“, die immer wiederkehrenden Frösche, die Werke mit dem Material Gel, die „Haluzigenia“ und „H-products“. Eine andere Serie ließe sich mit Erfindungen und Prototypen überschreiben, die „Jelly Soap“, die „Woobies“, das gerade erstmals in Bozen installierte „Taubenhaus“ oder die gerade abgeschlossene Kreation eines Parfüms. Eine dritte Kategorie sind inszenierte Situationen – wahllos aufeinander gelegte Seile, die zur Benutzung einladen oder die öffentlichen „Take Care“-Projekte. Die „Aftermath“-Serie greift Themen mit hoher medialer Aufmerksamkeit auf. In Form einer Broschüre verknüpft Walde die Berichte, eigene Assoziationen und Seitenpfade zu einer neuen, regelrecht ausufernden Erzählung. Ausgangspunkt sind z.B. der kleinen Junge, der die Fahrt im LKW-Reifen von Kuba in die US-Staaten überlebte und dann zum Zankapfel familiärer bzw. politischer Interessen wurde.

Für „Aftermath“ ist ein „statistischer Häufungswert in sozialen Situationen“ entscheidend, „Aftermath“ negiert die Grenze zwischen persönlicher und medial vermittelter Betroffenheit. Fast ein Gegenstück zu „Aftermath“ ist die „Loosing Controll“ bzw. „Enactment“-Serie, in der die Betroffenheit ausschließlich unmittelbar ist und sich ungewollt festsetzt.

Allen Serien gemeinsam ist die schnelle Eigendynamik der ursprünglichen Systematik, die in ein strukturiertes Chaos führt, in Verflechtungen und Abzweigungen, Unterdifferenzierungen und Überlagerungen. Allen gemeinsam ist aber auch die ungeheure Intensität, mit der Martin Walde in die verschiedensten Beobachtungen oder Studien eintaucht.

IV.
„Loosing Controll“ oder „Enactments“ präsentierte Walde bereits an verschiedenen Orten, u.a. auf der documenta 10 in Kassel: Zeichnungen mit Text, „storyboards“, wie es Walde nennt, oder auch „Comics ohne Einzelrahmen“. Eine Schwierigkeit dieser Präsentationen ist die Isolation, denn die Zeichnungen sind auf das Wesentliche reduziert. Ein wichtiges Moment, der städtische Umraum, fehlt. Daher präsentiert Walde in der Salzburger Installation einige Szenen als Animationen – in den fotografischen Hintergrund sind die Situationen gezeichnet – „um den Menschen wie einen Geist, wie eine unreale Erscheinung darzustellen und dazu etwas vom städtischen Hintergrund zu erfahren.“ Eine andere Schwierigkeit der bisherigen Präsentation war der „geringe Kommunikationserfolg. Nur wenige fanden einen Zugang. Offenbar erzeugt die Präsentation auf der Wand eine zu große Distanz. Aus dieser Erfahrung habe ich dann diese wesentlich körperlichere, involvierende und aggressive Umsetzung entwickelt. Zunächst dachte ich an einen Video-Schußapparat, der jetzt die Form dieses Roboters erhalten hat.“ Der Bilder-Beschuß ist allerdings derartig flüchtig, daß der Zugang zur Herausforderung bzw. zur sehr bewußten Entscheidung wird – was Martin Walde gezielt einsetzt: „Manche sehen diese Szenen nie, andere haben dafür eine Offenheit. So oder so haben sie den Einstieg ja auf der Straße auch nicht anders, ebenso flüchtig. Warum soll ich da einen pädagogischen Effekt erzielen?“

„Der Erlebnispegel ist so verschieden, dass es immer eine Möglichkeit gibt, dem Unangenehmen dieser Momente zu entwischen. Eine Einsicht meiner mittlerweile über zehnjährigen Beschäftigung mit diesen Menschen ist, dass jegliche Ausgegrenztheit und Verrücktheit auf psychischen Problemen basiert, die oft zu Armut und Obdachlosigkeit führen. Aber der gesellschaftliche Umgang damit ist noch viel verrückter als das, was da passiert. Unsere Gesellschaft trägt nicht genug Sorge für jene, die sich in der Schule, in der Erziehung weniger gut anpassen können. Es gibt nachher kaum Auffangnetze. Deswegen waren die ganzen Zugänge der Kunst der letzten zehn Jahre komplett daneben – den Leuten irgendwelche Hütten oder Häuser oder Anzüge zu schneidern, mit denen sie überleben können. Ein völlig formaler, absurder Gedankengang, ein materialistischer Zugang! Nur psychologische Kompetenzen, und zwar ein ganzes Heer davon, könnte da mit der Zeit helfen.“

V.
Kommen wir noch einmal auf die Bilder zurück, auf die Szenen.
„Ein Mann in Berlin von 1990. Der springt nackt in die U-Bahn, kahlrasiert, nur mit einer grünen Schürze bekleidet, und führt eine unglaubliche choreographische Leistung auf. Er putzt das Abteil durch und schreit und brüllt. Der lebt offenbar im U-Bahnbereich. Ich hab ihn jetzt zehn Jahre später wieder gesehen, mit einem selbstgeschneiderten Anzug aus karierten Decken. Man kann das nicht nur mit obdachlos oder nur mit verrückt bezeichnen. Mir fehlt die Sprache dafür – das ist eine eigene Existenz im Stadtraum.“ Solche Beobachtungen zeichnet Walde dann später aus der Erinnerung.
Es gibt nur wenige Fotos, die Menschen direkt dokumentieren. Bei „Small Man“ geschah das zufällig: ein Mann, der im Naturhistorischen Museum in Wien vor dem Skelett eines Dinosauriers grinsend, auf der Stelle stehend, von einer Seite auf die andere wippt. „Eigentlich hatte ich den gar nicht gesehen, ich hatte meine Kamera für eine andere Aufnahme vorbereitet. Das ist typisch – ich sehe das nicht, grenze das aus meinem Wahrnehmungsfeld aus und nehme das oft erst als Erinnerungs-Beam wahr.“ Eine direkte Dokumentation entstand am Berlin Alexanderplatz, eine herumwildernde Kamerafahrt. Eine Frau lief wie wild hin und her – und Walde gab ihr seine Kamera in die Hand.

Dieser Punkt der Zufälligkeit bzw. Erinnerung ist sehr wichtig. Denn Walde läuft nicht mit Kamera ausgerüstet durch die Städte und sucht seine Bildbeispiele. Diese Serie entsteht, „weil mir die Beobachtungen oder Erinnerungen extrem unangenehm sind und das nachherige Aufzeichnen so etwas wie ein Verarbeiten des Problems ist.“

VI.
Die einzelnen Beobachtungen sind wie gesagt nur flüchtig zu sehen, nur bei gezieltem Interesse und wiederholter Betrachtung zu entschlüsseln. Damit verhindert Martin Walde nicht nur einen unbeteiligt-voyeuristischen Zugang, erzeugt vor allem eine unglaublich intensive Situation. In der aufdringlichen Gleichzeitigkeit der Bilder rückt uns die Installation gefährlich nahe. Auf der Strasse treffen solche Szenen oft erst mit Verzögerung ins Bewußtsein, legen sich über andere Gedanken, drängen nach vorne und werden schnellstens wieder zur Seite geschoben. Mit eben diesem Vorgang finden wir uns in der Videoinstallation konfrontiert – verbunden mit der Aufforderung, unsere eigenen Erlebnisse als Mechanismus wahrzunehmen.

Sabine B. Vogel

(Sämtliche Zitate entstammen einem Interview, daß ich im Anschluß an die Ausstellung im September 2002 mit Martin Walde in Wien geführt habe.)