Martin Walde: Kunst & Wissenschaft, Graz

03. Jan. 2022 in Ausstellungen

Martin Walde, Neue Galerie Graz, 2021, Foto: Universalmuseum Joanneum/J.J. Kucek

Martin Walde, Neue Galerie Graz, 2021,
Foto: Universalmuseum Joanneum/J.J. Kucek

3. Mai 2023 steht auf dem weißen Blatt, dass von der Decke langsam auf den Boden segelt. Alle sechs Minuten spuckt der Drucker da oben Papiere aus, die sich unten neben- und übereinanderstapeln. „Timeline 2071“ nennt Martin Walde seine Installation in der Neuen Galerie Graz. Die beginnt 2018, endet 2071. Allerdings dauert ein Tag nur sechs Minuten, die Zeit findet im Schnellgang statt – so, wie in der Erzählung der australischen Insel Cockatoo, die zur „Timeline“ gehört: Im Jahr 1839 zunächst Gefängnisinsel, folgte später Sandsteinabbruch, dann Schiffbau, heute stehen hier Ruinen. Und in der Zukunft sieht Walde einen 300 Meter in die Tiefe der Insel führenden Turm von Babel. Die Insel sieht Walde als symptomatisch für die Neuzeit.
Alles etwas kryptisch? Ja, und dieses Gefühl beschleicht uns in Waldes Ausstellung häufiger – obwohl der 1957 in Tirol geborene, in Wien lebende Künstler uns in seiner Grazer Personale immer wieder sehr Konkretes zeigt. „Facts from Fiction – Fiction from Facts“ betitelt er seine Grazer Schau, und das kann man als Vorwarnung nehmen: Alles ist hier faktenbasiert. Aber auch voller Erzählungen. Und Fragen.

Martin Walde, "TIMELINE", Sydney, 2018/2020, © Bildrecht, Wien 2021

Martin Walde, „TIMELINE“, Sydney, 2018/2020, © Bildrecht, Wien 2021

So ist die „Timeline“ seine Antwort auf die Frage, wie man Historizität nicht-linear abbilden kann. Die Spirale im ersten Raum ist keine abstrakte Skulptur, sondern erweist sich beim Blick in das Begleitheft als hyperbolische Spirale, die sich in sich selbst zurückdreht. Irgendwie ist das laut Text mit seinem „Hallucigenia Board“ verbunden: mit dem Notizbrett zwei Räume weiter, auf dem eine geballte Ansammlung von Notizen, Zeitungsausrissen, Diagrammen und Begriffen von Waldes jahrzehntelanger Beschäftigung mit Hallucigenia erzählt. Das 1995 gefunden Fossil eines Urzeitwesens gelangte vor 541 bis 485 Millionen Jahren in den kanadischen Schiefer, ist 2-3 Zentimeter lang und gibt bis heute Rätsel auf: Weder ist Vorder- und Rückseite noch Kopf und Schwanz wissenschaftlich ausdiskutiert, und die Beine könnten auch konische Stacheln sein. Seit den 1980er Jahren beschäftigt sich Walde mit diesem Wesen und schafft immer wieder neue, faszinierende Formvariationen als Glasobjekte, die mit leuchtendem Plasma befüllt sind. Ein ähnlich beeindruckendes Wesen wird im anderen Raum in einem kurzen Video vom Wiener Max Perutz Institut vorgestellt: Tardinomis, auch Bärtierchen genannt. Es lebt in der Tiefsee, in der Antarktis, aber auch in unseren Wäldern, kann völlig austrocken und mit einem Tropfen Wasser fast magisch wieder zum Leben erwachen. Walde kombiniert diese kurze wissenschaftliche Einführung mit seinen Videoskizzen, Aufnahmen eines Wirbels, einer Wiese, von Ameisen. Er spricht von „strukturierter Zeit“: Wie erleben wir Zeit?

Ausstellungsansicht, „MARTIN WALDE. Facts from Fiction - Fiction from Facts“, Neue Galerie Graz, 2021, Foto: Universalmuseum Joanneum/J.J. Kucek

Ausstellungsansicht, „MARTIN WALDE. Facts from Fiction – Fiction from Facts“,
Neue Galerie Graz, 2021, Foto: Universalmuseum Joanneum/J.J. Kucek

Bewegungsmuster, Wahrnehmungsprozesse, Evolutionsbiologie, kollektive Vorstellungen und nicht zu vergessen Erfindungen – von Drucktechniken oder Objekten wie die Verbindungselemente aus elastischem Silikon: Waldes Werke stecken voller Erkundungen. Jedem seiner Werke gehe „eine Neustrukturierung ihrer Grundlagen“ voraus, erklärte Walde einmal im Gespräch. Das macht es sperrig, aber auch enorm spannend – und erfordert einen sehr genauen Blick: In der derzeitig 420 Zentimeter langen Kette ist jedes Glied größer bzw. kleiner als das nächstfolgende. Dieses Prinzip des grenzenlosen Wachsens bzw. Schrumpfens erzwingt immer andere Materialien und damit Produzenten, vom Goldschmied über den Metalltechniker bis zum Wissenschaftler. Im Kleinen geht es bald in den Nanobereich, die größten müssen wegen des Gewichts hohl werden – das könne bis zu Architekturen reichen, erklärt er. Und die Frage impliziert, wo die Grenzen des Wachstums liegen. Walde nennt seine Werken „Modelle unserer Welt“ – und die sind so kompliziert, aber auch emotional und erlebnisreich wie das Vorstellungsreich, in dem wir uns bewegen.
veröffentlicht in: Die Presse, 31.12.2021
Martin Walde, Neue Galerie Graz, 6.10.2021-24.4.2022