Streifzug durch die Geschichte der documenta (1992)

27. Mai. 1992 in Biennalen

Jeder geschulte Betrachter der documenta hält sich für klüger als der Inszenator. Und jede documenta wirft auf’s Neue die Frage nach Notwendigkeit und Hinfälligkeit der Dauereinrichtung auf. Aber damit ist hier nicht mein Beobachter-Plateau bezeichnet. Die documenta als Institution soll weder kritisiert noch guillotiniert werden. Im Gegenteil: Sie eignet sich aufgrund ihrer exponierten Stellung hervorragend zur Durchsetzung bestimmter (künstlerischer und gesellschaftlicher) Haltungen. Nur die in den Veranstaltungen (die aktuelle bereits eingeschlossen, die von 1972 ausgenommen) (re)präsentierte Haltung ist es, die ich hier kritisiere. Und das heißt nicht die Künstlerliste. Das richtet sich auf Auswahlkriterien und Zielrichtung des aktuellen Konzepts mit Rückblick auf die vorherigen. Eine Kritik der zunehmenden Isolationsmechanismen, der Separierungsstrategien. Die aktuelle documenta wird dem akut zunehmenden Konservativismus ihr Tribut zollen – und sich damit in die Geschichte der documenta nahtlos einfügen.
II.
Kunstausstellungen beinhalten den Anspruch, eine Alternative zur Alltagswirklichkeit zu stellen. ‚Alternative‘ wie auch ‚Alltagswirklichkeit‘ sind Konstrukte. Eine klare Trennung zwischen Kunst und Alltag existiert nicht: nicht als Wesensbestimmung von Kunstwerken, nicht als Produktionsbedingung. Die Trennung wird durch Ausstellungssituationen aufgebaut. Separierungsstrategien unterstützen die gängige Erwartungshaltung, daß in den neutralen Kunsträumen höchste Außergewöhnlichkeit, den Alltag Ausschließendes oder Transzendierendes präsentiert wird. Daß da der ‚Geist der Zeit‘, der Grad der (geistigen) Freiheit und die kulturelle Höhe des jeweiligen Landes repräsentiert ist. Kunstwerke als Repräsentanten. Barometer von Freiheit und Innovationsfähigkeit einer Landeskultur. Wahrgenommen werden solche Daten allerdings nicht aktiv (verbindliches Denken), sondern in passiver, kontemplativer Fernsehhaltung. Präsentiert in separierten Räumen, denn in der U-Bahn oder in Tageszeitungen sinkt der Repräsentationsgehalt. Von ‚Alternative‘ kann nicht gesprochen werden – die ‚Räume‘ (alltägliche versus künstlerische Bildwelten) sind nicht austauschbar. Im Gegenteil: sie bedingen einander. Über die mit den Konstrukten gesetzten Pole, über Differenzen läßt sich erst im Bewußtsein des kausalen Zusammenhangs Kunst und Gesellschaft sprechen.
III.
Von der Kunst als „Prüffeld der Freiheit“ spricht Hans Eichel, Oberbürgermeister Kassels, im Vorwort der documenta 6, 1977. Ein Anspruch, der mit der ersten documenta, der Gründungsausstellung 1955 vorgegeben ist: Arnold Bode erfand die documenta nicht als Periodikum, sondern als Aufarbeitungsforum. Die durch das Naziregime (= Unfreiheit) unterbrochene Geschichte der Moderne (=Freiheit) ist wieder aufgenommen bzw. daran angeknüpft. Schwerpunkt sind Werke bis 1933. ‚Angeknüpft‘ heißt aber zugleich auch ‚ausgeschlossen‘: Nach der Retrospektive folgt die Spiegelung der Gegenwart als Thema der documenta 2, 1959. Heißt: die Werke der Nazizeit sind aus der documenta-beeinflußten Kunstgeschichte ausgeblendet. „Die documenta befriedigt eines der wichtigsten geistigen Nachholbedürfnisse“ – so faßt es Friedrich Bayle im Katalog zur documenta 2 zusammen. Gemeint ist erstaunlicherweise nicht eine – auch anschauliche – Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte, mit dem Nationalsozialismus, sondern mit einer Auswahl der Kunst vor ’33 und nach ’45. Gemeint sind auch nicht Fragen der kulturellen und städtischen Infrastrukturen (obwohl die Stadt Kassel mit einem Extra-Katalog vorgestellt wird, inklusiv Bibliotheken, Stadtbild, Schulen – aber ohne Konsequenz für die Werk-Präsentation und -Auswahl); nicht politische und gesellschaftliche Strukturen der Gegenwart, sondern die Anschlußfähigkeit expressiver und abstrakter Kunstwerke, Haltungen, Mitteilungen.
IV.
Die ‚documenta‘ als blue-box-System funktioniert auch für die nächsten beiden Veranstaltungen noch reibungslos. Das übliche Malerei- + Skulpturprogramm wird für die documenta 3/1964 durch Handzeichnungen und „Randgebiete des Alltags“ ergänzt – was mit Graphik und Design gefüllt ist. Im Vorwort zu diesem Teil ist eine höchst prägnante Bestimmung der Kunst zu lesen: „… was das essentiell Künstlerische stets war und ist: Gestaltfindung und Versinnlichung imaginativer Wirklichkeiten“ (H.Eckstein). Imaginativer? Expressionismus statt Wirklichkeitsbefragung. Im Graphikbereich hängen Ausstellungs- und wenige Werbeplakate. Plakat als Propagandamittel, als Medium der Wirklichkeitsaneignung und -bestimmung verschwindet ganz im Sinne des ausgrenzenden Kunstbegriffs (und dessen Folgen für die Angewandte Kunst) im Blau der Box.
Die documenta 3 strebte einen „echten“ Raumbezug der Werke an – ein Raum natürlich, von dem aus ein Alltagsrand (‚künstlerisch wertvolle‘ Plakate und Design) bestimmt werden kann. Ein neutraler, zeitloser und kontextfreier Raum, der selbst architektonisch von den geschichtlichen Spuren bereinigt ist. Geschichtliche, geographische, kulturelle, politische und wirtschaftliche Bezüge sind genauso blau wie die politischen Plakate. Als ehemalige Hauptstadt des Königreichs Westfalen war Kassel Residenzstadt von Fürsten etc. Beim Bombenangriff ’43 wurden die meisten Zeugnisse dieser fürstlichen Vergangenheit zerstört. Die neuentstandene Grenze setzte noch eines drauf, Kassel war Zonenrandgebiet, städtisch und wirtschaftlich unattraktiv. Die documenta entstand anfangs als Randereignis, wurde aber dann schnell als Aufmerksamkeit- und Tourismus-steigerndes Mittel erkannt (Besucherzahlen: 130.000 1955, 200.000 1964, 355.000 1977).
V.
Mit der documenta 4, 1968 zeigen sich erstmals Entwicklungen des gesellschaftlichen Raumes auch im documenta-Raum – auf organisatorischer Ebene. Statt der Alleinauswahl durch Arnold Bode wird über die Künstlerliste ratsdemokratisch abgestimmt. Bestehen bleibt allerdings als Auswahlkriterium ein diffuser Qualitätsbegriff: der Glaube an eine „große Schöpfung“, an künstlerische Hochleistung, die „in einsamer Strahlkraft leuchtet“. Gezeigt werden z.B. Werke der Pop Art, überlegt aber nicht realisiert wird der Einbezug von Kunsttheorie, experimentellem Film und Themen der Architektur.
All den – in den bis dahin 17 Jahren documenta-Geschichte angehäuften – Versäumnissen und Separierungsstrategien setzte Harald Szeemann mit seinem Team (J.-C. Ammann, B. Brock) 1972 die documenta 5, „Befragung der Realität – Bildwelten heute“ entgegen: Die bis heute – und wahrscheinlich auch noch morgen, nach Eröffnung der documenta 9 – nicht nur interessanteste, sondern noch immer gültige Ausstellung. Statt der Bode’schen Kompensationstaktik (Kompensation ist Nährboden für Veränderungsfeindlichkeit) setzt Szeemann die Ereignisprogrammierung. Die Frage nach ästhetischer Qualität oder Werten wird irrelevant gegenüber Fragen nach Funktion und d.h. „Erkennen als Form gesellschaftlichen Arbeitens“, heißt „Veränderung der Wirklichkeit durch Veränderung ihrer Darstellung und der Erkenntnisinstrumente“ (Konzept Szeemann). Religion, Werbung, Banknoten, Plakatpropaganda, Science Fiction, Sozialistischer Realismus, Geisteskranken-Kunst, Film, Museen stehen gleichwertig neben konzeptuellen, analytischen und interventionistischen Bildwelten.
Seit ’72 werden jeweils neue Künstlerische Leiter gewählt. Aber Szeemanns radikales Konzept, die beliebte Trennung Kunst – Realität/Gesellschaft nicht zu repräsentieren und also reproduzieren, ist seither nicht weitergeführt worden. Im Gegenteil: bereits zitierter Hans Eichel rückblickend auf die documenta 5: „… es ging darum, exemplarische Werke in den Kontext gesellschaftlicher Wirklichkeit hineinzustellen“. Also stehen die Werke eigentlich außerhalb? Schneckenburgers 6.documenta trägt den Untertitel „Malerei Plastik Performance“, gezeigt werden dazu Handzeichnungen (warum dieser Rekurs auf die documenta 3?) (gezeigt wurden – 1977!! – Arbeiten von u.a. Miro, Tapies, Picasso, Horst Antes), aber auch Foto, Film, Video und Objekte im Außenraum. Doch selbst als Medienkonzept repräsentiert die Ausstellung wieder offensichtlich konservative Anliegen: Aufarbeitung der Fotografie-Geschichte nur innerhalb des Mediums (Betonung der ‚offiziellen‘ Pioniere = Aufarbeitung, Rekurs auf erste documenta); Anspruch, der „Trivialität von Medien entgegenzuwirken“ (setzt die klare Trennung zwischen trivial – erhaben voraus) und Ausschluß der Kontextorientierung.
Noch regressiver verhält sich Rudi Fuchs mit seinem Team (J. Gachnang, G. Storck, G. Celant, C.v.Bruggen) zur documenta 7, 1982. Statt eines Konzeptes präsentierte Fuchs im Vorwort pseudo-poetische Romantizismen: „der Künstler sucht ein gefährliches Abenteuer“, „der Würde der Kunst gerecht werden“, „einen Garten für die einzelnen Blüten anlegen“ etc. Referenzen werden nicht theoretisch fundiert, sondern poetisch, mit Hölderlin, Goethe, TS Eliot usw. Die blue-box steht wieder, ergänzt durch die ‚blaue Blume‘! Aus Angst vor einer grundsätzlichen Umdefinition des Ausstellungskonzeptes flüchtet die 1982er Mannschaft weit nach hinten. Und auch 1987, abermals Schneckenburger, wird an der Box weitergebaut. Statt gesellschaftlicher Relevanz Autonomie, allerdings unter Ausschluß der peinlichen „poetischen Erzählung“ von 1982. Die nimmt dagegen das aktuelle Team spielend wieder auf, erzählt von Helden (Fridericianum) und anderen Märchen, sich ganz auf sich selbst und das Schutzschild ‚Subjektivität‘ verlassend.
1987 griff Schneckenburger ein anderes documenta-Modell auf, das 1968 nicht realisiert wurde: Präsentation von Architektur- und Designentwicklungen, allerdings in nächster Nähe zur Kunst, nicht zum gesellschaftlichen Raum (z.B. Museumsbauten). Einzig Szeemanns Konzept der Interventionen im Stadtbild, außerhalb der Ausstellungsräume, ist bis heute noch evident geblieben. Aber eben objektorientiert im Stadt-‚BILD‘, nicht ereignishaft im gesellschaftlichen Raum. Ohne den Schutzmantel der ‚Ausstellung‘ als Kunst-Ausweis und das hieße Offensiv-Strategie; ohne tatsächlichen Interventions-, Veränderungsanspruch.
VI.
Die Geschichte der documenta liest sich als Geschichte gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen. Entsprechend meiner anfangs bestimmten Beobachtungsposition liegt die Kritik an dem aktuellen, an Jan Hoets Subjektivitäts-Konzept für die documenta 9, nicht auf Menge oder Wahl der Künstler im Speziellen – im Gegenteil: die Auswahl ist durchaus beachtenswert. Aber vom Auswahlkriterium und der repräsentierten Haltung wird die documenta 9 Konservativismus- und Privativismus-affirmativ – bis hin zur Penetranz des (wieder und wieder praktizierten) Männerbund-Modells. Denn Frauen, ob im Organisationsteam oder im Künstlerregister, werden zusammen mit gesellschaftlichem Kontext und kunstraum-übergreifenden Ansprüchen ausgeblendet.

veröffentlich 1992