Venedig im Corona-Sommer 2020

29. Sep. 2020 in Ausstellungen

Canal Grande im Juni 2020 // SBV

Canal Grande im Juni 2020 // SBV

Auf den Brücken über den Canale Grande drängeln sich die Reisegruppen, vor der Markuskirche stehen die Menschen stundenlang an und die Vaporetti zum Biennale-Gelände quellen über von Besuchern – so kennen wir Venedig im Sommer. Anfang Juni  ist alles anders: Die Lagunenstadt ist nahezu leer. Nur wenige Tische stehen auf dem Markusplatz, die Restaurants sind kaum gefüllt, viele Bars sperren erst gar nicht auf. Keiner muss sich über Kreuzschiffe ärgern, nicht einmal Luxus-Yachten legen an. Und wer sich auf den Weg zu der Biennale macht, endet vor Absperrgittern. Die wenigen Unermüdlichen werfen dort sehnsüchtige Blicke in das Gelände. Einige Länderpavillons werden gerade renoviert, Baumaschinen stehen herum. Hier sollte eigentlich nächsten Monat die 17. Architektur Biennale eröffnen, mehr als 60 Länder hatten zugesagt. Aber das Megafestival musste wegen Covid19 auf 2021 verschoben werden.

Markusplatz, Venedig Juni 2020 // SBV

Markusplatz, Venedig Juni 2020 // SBV

Zwar ist der Lockdown vorbei, aber die Kultur in Venedig steht noch still. Nur ganz langsam beginnt es wieder. Immerhin am Wochenende öffnen die Museen ihre permanenten Sammlungen: die Galleria dell´Accademia mit den großartigen Alten Meistern, oder die Peggy Guggenheim Collection im Palazzo Vernier, diesem unvollendeten Palast gleich am Canal Grande, mit Werken der Avantgarde. Und die wenigen Touristen sind hungrig nach Kultur. Schon am Freitag in der Früh bilden sich vor den Türen lange Schlangen. Dann folgt Fiebermessen, Maske tragen, Abstand halten – Italien nimmt die Corona-Vorsichtsmaßnahmen sehr genau. Ruhig ist es in den Galerien Michela Rizzo und Alberta Pane auf der Giudecca, die italienische Depandance der spanischen Galerie Victoria Miro sperrt erst Mitte Juli auf. Auch die San Lorenzo Kirche unweit des Arsenal-Geländes bleibt noch geschlossen. Zwei Jahre lang ließ Sammlerin Francesca Habsburg die aus dem 9. Jahrhundert stammende, ehemalige Klosterkirche renovieren – eine Gegenleistung zum zehnjährigen, mietfreien Nutzungsvertrag für ihre TBA21-Stiftung. Seit 2019 findet hier ein temporäres Programm unter dem Titel „Ocean Space“ statt. Ende August werden die sich verändernden Ozeane Thema einer Ausstellung.

Punta della Dogana, Venedig © Palazzo Grassi, Foto, Thomas Mayer

Punta della Dogana, Venedig © Palazzo Grassi, Foto, Thomas Mayer

Palazzo Grassi, Venedig © Palazzo Grassi, Foto Matteo De Fina

Palazzo Grassi, Venedig © Palazzo Grassi, Foto Matteo De Fina

Vorerst nur am Wochenende, aber endlich los geht es im Palazzo Grassi und der Punta della Dogana. Beide Häuser gehören dem französischen Milliardär Francois Pinault. Er hatte sich 2005 enttäuscht über die französische Bürokratie von Paris abgewendet und seine Kunststiftung stattdessen nach Venedig verlegt. Für 29 Millionen Euro kaufte er der Fiat-Familie Agnelli den Palazzo Grassi ab. 2007 sicherte er sich dazu die wenige Gehminuten entfernte Punta della Dogana für eine 30jährige Nutzung. Beide Bauten ließ er vom japanischen Architekten Tadao Ando umbauen, seither sind sie mit je 5000 Quadratmeter Ausstellungsfläche zu Tempeln für zeitgenössische Kunst geworden.

Installationsansicht „Untitled“, 2020, Punta Della Dogana, in der Mitte Thomas Houseago, Beautiful Boy, 2009. Courtesy Künstler und Gagosian Gallery. Copyright Palazzo Grassi, Foto Marco Cappelletti

Installationsansicht „Untitled“, 2020, Punta Della Dogana, in der Mitte Thomas Houseago, Beautiful Boy, 2009. Courtesy Künstler und Gagosian Gallery. Copyright Palazzo Grassi, Foto Marco Cappelletti

Hier also beginnt jetzt Venedigs Saison für zeitgenössische Kunst. Noch müssen die drei Ausstellungen in den zwei Häusern zwar ohne opulente Eröffnungsfeste auskommen. Die große Vernissage wird erst im September stattfinden, zeitgleich mit dem Filmfestival, wenn das Leben vielleicht zur Normalität zurückgefunden hat. Aber bis dahin geht es immerhin schrittweise weiter, zunächst nur an Wochenenden. Da kann in der Punta della Dogana die vom Pinault-Künstler Thomas Houseago zusammen mit zwei Kuratoren entwickelte Schau „Ohne Titel, 2020. Drei Perspektiven auf die Kunst der Gegenwart“ (bis 13.12.2020) besucht werden. Werke von über 60 KünstlerInnen sind unter allgemein gehaltenen Themen wie „Beginn der Malerei“, „Sex“ bis zu „Utopia“ und „Tod“ auf die 19 Räume des ehemaligen Zollhauses verteilt, darunter manche Kunstgeschichtsikonen wie Marcel Broodthaers „Armoire de Cuisine“ (1966-68) aus Pinaults Sammlung, aber auch Unbekanntes wie die große, teils bemalte, teils bedruckte Leinwand der britischen Textilkünstlerin Alice Kettle.

Youssef Nabil, You Never Left # XI, 2010. Handkolorierter Silbergelatinedruck. Courtesy Künstler und Nathalie Obadia Gallery, Paris/Brussels

Youssef Nabil, You Never Left # XI, 2010. Handkolorierter Silbergelatinedruck. Courtesy Künstler und Nathalie Obadia Gallery, Paris/Brussels

Im Palazzo Grassi läuft oben die erste Retrospektive überhaupt des ägyptischen Künstlers Youssef Nabil, der bekannt ist für seine farbenfrohen, handkolorierten Fotografien, in denen er gerne die westlichen Klischees des Orientalismus aufgreift. Der Höhepunkt aber ist „Le Grand Jeu“ des Fotografie-Meisters Henri Cartier-Bresson (beide bis 10.1.2021). Dafür hat Chefkurator Matthieu Humery ein eigenwilliges Konzept entwickelt: Fünf Prominente sollten aus Cartier-Bressons Meisterwerke-Edition eine ganz persönliche Auswahl treffen. 1973 hatte der Fotograf auf Anregung seiner Sammlerfreunde Dominique und John de Menil ein Set aus 385 seiner besten Fotografien zusammengestellt. Es entstand eine 5+1-Auflage. Ein Set besitzt Pinault, der jetzt selbst ´kuratiert´, zusammen mit dem Filmemacher Wim Wenders an, dem spanischen Autor Javier Cercas, der US-amerikanischen Starfotografin Annie Leibovitz und Chefkuratorin der Bibliotheque Nationale in Paris Sylvie Aubenas.

Henri Cartier-Bresson Lac Sevan, Arménie, URSS, 1972, épreuve gélatino-argentique de 1973 © Fondation Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos

Henri Cartier-Bresson Lac Sevan, Arménie, URSS, 1972, épreuve gélatino-argentique de 1973 © Fondation Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos

Nicht die bisher so oft betonten Aspekte des ´entscheidenden Augenblicks´ und der rigorosen Bildkompositionen sollten wichtig sein, sondern neue Perspektiven auf die Meisterwerke. Dafür bringen die Fünf ihre eigene Geschichte ein: Der Sammler Pinault lässt seine Auswahl in strengen, weißen Rahmen museal hängen, betont die Menschenbilder, die Aspekte von Armut, aber auch von Alter. Leibowitz wählt schwarze Rahmen, gruppiert die Bilder in assoziative Blöcke und entscheidet sich für einige der politischen und auch traurigen Aufnahmen, von Revolte und Einsamkeit. Cercas beginnt mit Ezra Pound und endet mit Samuel Beckett, dazwischen erzählt er anhand seiner Auswahl seine eigenen, allerdings kryptischen Geschichten – meist mit Menschen, die auf irgendetwas außerhalb der Bildwelten schauen. Wim Wenders setzt auf Dramatik: Seine Räume sind verdunkelt, die Fotografien mit perfekten Spotlights ausgeleuchtet. Wenders entführt uns in eine filmische Fotografie-Welt, kombiniert mit einem kurzen Video über seine Beschäftigung mit dem Werk: Mit einer Lupe zoomt er auf die Gesichter und konzentriert sich auf die Blicke der Menschen, auf die Emotionen. Aubenas dagegen löst es weitgehend sachlich, unterteilt ihre Auswahl in Unterthemen wie Licht-Schatten-Spiele oder Kinder. Allerdings ließ sie die Wände rosa färben und die Fotografien in breite, braune Holzrahmen stecken, um das Schwarz-Weiß der Aufnahmen konkurrenzlos wirken zu lassen. Einigen Fotografien begegnet man immer wieder: die auf dem Stromkasten stehenden Männer, der aus dem KZ-Lager kommende Junge in dem übergroßen Mantel oder auch der mysteriöse Nackte vor der Wand. Aber sie sind immer in andere Geschichten eingebettet – und genau da geht dieses Konzept der vielen Perspektiven hervorragend auf. Rund je 50 Fotografien wählten die Fünf aus, und durch die verschiedenen Setzungen wird die Vielschichtigkeit der Werke auch für ein breites Publikum offensichtlich – das sicherlich bald wieder nach Venedig reisen wird, in eine Stadt, die in Zukunft nur noch auf einen „sanften Tourismus“ setzen will – ob die Stadt auch 2022, wenn die nächste Kunst Biennale stattfinden, noch so faszinierend entspannt sein wird?

Venedig im Juni 2020 // Foto: SBV

Venedig im Juni 2020 // Foto: SBV

veröffentlicht in: NZZ, 28.7.2020