Letztes Jahr hatte sie angekündigt, die Messe schrumpfen zu wollen. Von 140 Galerien träumte Sarah Cosulich, die seit 2012 die Artissima in Turin leitet. Jetzt nehmen an der 23. Artissima doch wieder nahezu 200 Galerien aus 34 Ländern teil. Das ist eine erstaunlich große Zahl für eine Regionalmesse, zumal die Messe nicht für hohe Verkäufe bekannt ist. Aber wer einmal an der Messe teilgenommen oder sie besucht hat, stimmt sofort in den großen Kanon ein: „meine Lieblingsmesse“ wird die Artissima immer wieder beschrieben. Denn diese Veranstaltung ist etwas ganz Besonderes.
Das beginnt heuer zur 23. Artissima bereits am Flughafen in Turin. Direkt bei den Gepäckbändern sind vierzehn große Leuchtkästen von Thomas Bayrle aufgestellt. „Das ist die beste Stelle im Flughafen. Es hat so eine gute Langeweile, wenn die Koffer da entlangschleichen und die Leute warten“, erklärt der Frankfurter Künstler im Gespräch mit dieser Zeitung. In krasser Konkurrenz zu der Leuchtreklame rundherum an den Wänden ist „Flying Home“ quer durch den Raum aufgestellt. Die leuchtenden Fotografien zeigen, wie aus Tausenden von kleinen Flugzeugbildern das eine große „Flugzeug“ (1984) entsteht, das in Basel zu sehen war und hier in Turin jetzt seine Vollendung in der Nähe zu Transport und Technologie findet.
Sein neues Werk ist komplett von der Stadt Turin finanziert, die auch für die 1994 von der Stadt gegründete Kunstmesse verantwortlich ist. Zur Pressekonferenz wurden jetzt erstmals konkrete Zahlen genannt: Vier Millionen Euro sind budgetiert. Diese Summe lässt Messeleiterin Cosulich große Freiheiten, und die weiß sie bestens zu nutzen. Denn die Artissima ist die erste und bisher einzige Kunstmesse, die eng mit Kuratoren zusammenarbeitet. Das ganze Jahr über recherchieren 52 Profis für die Messe, sie seien im ständigen Austausch, und dies oft sogar noch Jahre später, erzählt Cosulich. „Wir sind nur ein kleines Messeteam, können uns aber auf viele Augen verlassen.“ Einige sind in den Jurys für die insgesamt sieben Preise, die hier jedes Jahr vergeben werden, andere machen gemeinsame Führungen mit Sammlern in der Walkie Talki-Reihe, und weitere suchen gezielt Künstler aus für die Messesektionen Back to the Future (Kunst von 1975 bis ´85), Present Future (junge Kunst) und New Entries (erstmalige Teilnahme).
Das Prinzip der Kuratoren ist das größte Asset dieser Messe. Die hohe Qualität des Ausgestellten lockt Sammler an, heuer aus 75 Ländern, viele erstmals aus Lateinamerika. 80 Prozent seien erstmals auf der Messe, betont Consulich stolz. Denn anders als auf den Messen in Basel oder London ist hier viel zu entdecken, und das oft zu Preisen unter 10.000 Euro. Das ist möglich, weil die Kosten der staatlich geförderten Messe vergleichsweise niedrig sind. Ein Stand in der New Entries-Sektion kostet 6.500 Euro – zum Vergleich: für einen kleinen Stand auf der Wiener Messe Vienna Contemporary müssen 8000,- Euro gezahlt werden.
So leisten sich die Galerien auch auf der 23. Artissima wieder Experimente, wie etwa die junge Wiener Galerie Nathalie Halgand bei ihrem ersten Auftritt in Turin. Sie zeigt eine große Installation des 1982 geborenen, japanischen Künstlers Jumpei Shimada. Steine liegen auf dem Boden, Sanduhren aus Holz stehen darauf (ab 800,- Euro), ein kleiner Wandtisch in Form einer Wolke ist mit einem cremefarbenen Puzzle bedeckt – eine nahezu unmögliche Aufgabe, die richtigen Teile zusammenzusetzen (3.300,- Euro). Sein Thema ist Zeit, was Shimada vielfältig umsetzt.
Weitaus dekorativer legt es die Berliner Galerie Future an, die Lampen von Rubén Grilo zeigt (2.500 Euro). Die Hand-Formen sind von Maschinen ausgeschnitten und dann von Hand gebogen – Technologie und manuelle Arbeit treffen im Bild der Hände zusammen.
Der auffallend größte Teil der Kunst hier ist allerdings der reduzierten Formensprache der Moderne verpflichtet. Das trifft auf die 19 Stände der Back to the Future-Sektion zu, wo etwa das kaum bekannte Werk von Klaus Lutz bei Rotwand aus Zürich zu entdecken ist. Der 1940 in St. Gallen geborene, 2009 in New York gestorbene Künstler war in den 1970er Jahren überzeugt, dass die geschriebene bald von einer Zeichensprache ersetzt werden wird – und entwickelte ein eigenes System für die Bücher von Robert Walser. In vielen, teils winzigen Leporellos reihte er kleine Kaltnadelradierungen aneinander. Diese Form wählte er, weil ihm ein einzelnes Blatt zu eng war.
Mit Formaten und Medien spielt auch der britische Künstler Finbar Ward, der in der Main Section am Doppelstand der beiden Galerien FOLD und Annex 14 seine Objekte zeigt. Mit den geometrisch geformten Leinwänden praktiziert er eine skulpturale Malerei (ab 3.400 Euro), ´shaped canvas´, die nahezu ohne Farben auskommen. Die ersten waren wenige Minuten nach Messestart verkauft. Auch Georg Podnars Geschäfte laufen bestens. Er nimmt heuer das zehnte Mal teil und nennt die italienischen Sammler sogar „die am besten Informierten in Europa“. Bei ihm findet sich ein starkes Werk von Marzena Nowak: Die Fotografie einer Rose ist zerkratzt, in den Einschnitten scheint ein Familienfoto durch, von Menschen, die in den 1950er Jahren unter Stalin deportiert wurden – „Membranen von Geschichte“ nennt es die Künstlerin.
Denn auch das findet sich auf der Artissima: Politisches und Düsteres, wie das bizarre Video von Ed Young bei SMAC aus Südafrika. Wir sehen zwei Babies händchenhaltend und fröhlich eine Allee entlangschlendern. Bald aber liegen sie kämpfend auf dem Boden.
Es sind Kleinwüchsige, mit Masken, mit traurig verzerrten Gesichtern. Mit „Little“ (2016; 5.500 Euro) thematisiert der südafrikanische Künstler nichts weniger als „unsere Welt, die geprägt ist von Ängsten und Tränen“, erklärt die Galeristin – groteske Bilder, die jede Idee von Unschuld auslöschen.
Eine Atmosphäre von Angst und Alpträumen herrscht auch am Stand des ehemaligen non-profit-space Piktogram aus Warschau. Die Wände sind mit einer Tapete aus Ziegelsteinen bedeckt, davor steht ein Bett, in dem sich die Decke hebt und senkt (Tomasz Mroz, 9.500). In den Bildern von Cezary Poniatowski und den Fotografien von Szymon Roginski manifestieren sich dann die dunklen Träume.
Besonders eindringlich Roginskis Leuchtbox: in einem hoch lodernden Feuer verbrennen Mengen von Fotoapparaten (3.500).
Auch die zunächst reichlich kitschig und viel zu theatralisch erscheinende Figurengruppe mit riesigem Seestern, Seepferdchen und Monstern, die zusammengepfercht in einem Schwimmreifen vor einem knallblauen Vorhang drapiert sind, ist tatsächlich ein heftiges Bild unserer Zeit (Galerie Akinci, 35.000). Die russische Künstlerin Gluklya thematisiert mit dem Ensemble Migration, genauer: die im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlinge. Dieses Werk ist trotz oder gerade wegen der geballten Ambiguität ganz prominent direkt am Eingang platziert.
Denn Messeleiterin Consulich rückt mit der 23. Artissima die junge Kunst gezielt in den Vordergrund, um den Ruf als Entdeckermesse zu betonen. Heuer ist übrigens möglicherweise ihr letztes Jahr, laut EU-Recht wurde ihr Posten neu ausgeschrieben. Sie ist unter den Bewerbern und in Turin sind sich alle sicher, dass sie wiederbestellt werden wird. Ob sie dann ihren Plan ausführen wird, einen neuen Ort für die Artissima zu finden, wie sie im Gespräch verriet?
Artissima, 4.-6.11.2016
veröffentlicht in: Welt, 6.11.2016