Marinella Senatore – eine Prozession für Salzburg

02. Mai. 2023 in Ausstellungen

Marinella Senatore, Dance First Think Later, MdMS, Foto Valentin Behringer

In ihrer ersten Personale im deutschsprachigen Raum zeigt die italienische Shooting Star-Künstlerin Marinella Senatore im Museum der Moderne Salzburg eine kleine Retrospektive, inklusiv Workshops für ihre große Prozession durch die Altstadt im Juni. 

Stepptanz, Akrobatik, Selbstverteidigung. Mädchenfussball, Kabuki, LGBTQIA+. Hausmänner, sehr alte Menschen, Polizei, Gehörlose. Und noch weitere 60 Gruppen sind auf einem Flyer aufgelistet. Gesucht werden mit dem Open Call Mitwirkende für eine große Parade, die am 24.6. ab 16:00 Uhr durch die Salzburger Altstadt ziehen wird. Initiator ist die italienische Künstlerin Marinella Senatore. Sie möchte die Menschen mobilisieren, mit Tanz, Musik und Gesang ihre eigenen Geschichten zu erzählen und als temporäre Gemeinschaft zusammenzufinden. Gefragt sind dafür Spontanität und Offenheit, in Workshops wird vorab mit lokalen Choreographen eine Gesamtinszenierung vorbereitet – nicht in einer Turnhalle, sondern im Museum der Moderne auf dem Mönchsberg. Denn die Parade ist Teil von Senatores großer Personale „We Rise By Lifting Others“. Es ist die erste große Ausstellung des italienischen Shooting Stars im deutschsprachigen Raum. Nach ihrer Ausbildung in klassischer Musik und Film begann Senatore eine partizipative, gemeinschaftsorientierte Kunstform, für die sie berühmt wurde. 2009 erarbeitete sie ein Jahr lang den gemeinschaftlich produzierten Musikfilm „Speak Easy“ mit der Bevölkerung von Madrid, an dem 1200 Bürger mitarbeiteten. Eines ihrer frühen Objekte ist das „Protest-Fahrrad“ von 2016: Ausgestattet mit drei Megaphonen, können Protestierende an fast jedem Ort laut ihre Botschaften verkünden.

Marinella Senatore. We Rise by Lifting Others, Ausstellungsansicht, Museum der Moderne Salzburg 2023, © Museum der Moderne Salzburg, Foto: Rainer Iglar

Jetzt sind diese Werke oben auf dem Mönchsberg zu sehen. Als Retrospektive angelegt, findet ein Kapitel der großen Ausstellung in Salzburg statt, das andere eröffnet im Mai in der Münchner Villa Stuck. Mit ihren wunderbar farbenfrohen und dabei höchst politisch engagierten Werken verkündet Senatore in beiden Städten ihre zentrale Botschaft: „Dance First Think Later“. In Salzburg prangt dieser Slogan gleich im Eingang auf einer großen Lichtinstallation. Inspiriert ist das Objekt von den süditalienischen ´Luminarie´: Bei religiösen Festen stehen die bunten Lichtermeere wie große Portale vor Kirchen, hängen über Straßen oder leuchten auf öffentlichen Plätzen. Wie die Luminarie so sind auch die Paraden Elemente der Volkskunst, die Senatore aufgreift und verändert. Paraden finden traditionell im religiösen, aber auch im politischen Kontext statt. „Besonders Diktatoren wissen gut inszenierte Menschenbewegungen zu nutzen“, erklärt sie in Salzburg im Gespräch. „Traditionen sind mir sehr wichtig, um aktuelle Themen zu aktivieren.“ „Ich will solche Formate mit anderen Inhalten überschreiben, die Menschen ermächtigen, es sich anzueignen“. Daher auch das Motto „Tanze erst denke später“ – ein Zitat von Samuel Beckett, erklärt sie, „das ist die richtige Ordnung“ sei der weitere Wortlaut. Es treffe einen Kernpunkt, der in den Neonlichtobjekten noch verstärkt wird: die Bedeutung des Sinnlichen. Senatore sieht es als Appell, Hemmschwellen abzubauen, um in einen körperlichen Austausch mit anderen zu treten, um Entfremdung und Isolation zu überwinden. Themen, die sie auch in ihren wunderbaren Collagen aufgreift, etwa in den neuen, für Salzburg entstandenen neunteiligen Werken zum Thema „Collaborations“. „Collagen sind genauso wie ich fühle und denke: alles ist gleichzeitig“, kommentiert sie diese Form. Ihre Zeichnungen dagegen dienen ihr als Mittel der Reflexion über das Körperverhalten von Menschen. Sie zeichne täglich, erzählt sie: Szenen von Protestmärschen, Widerstandsbewegungen, Demonstrationen gegen Unterdrückung.

Marinella Senatore. We Rise by Lifting Others, Ausstellungsansicht, Museum der Moderne Salzburg 2023, © Museum der Moderne Salzburg, Foto: Rainer Iglar

Und mitten zwischen ihren Bannern, Collagen, Zeichnungen und Filmen ist dann dieser rot markierte Bereich, den sie „School of Narrative Dance“ nennt. Es sei ein „temporäres Klassenzimmer“, eine nomadisierende Schule, erklärt sie. Seit 2012 gastierte sie damit in mehr als zwanzig Ländern und konnte rund acht Millionen Menschen einbinden. Sie spricht von einer „horizontalen Schule“, es finde ein hierarchiefreier, offener Austausch statt. Die Lehrenden kommen jeweils aus dem lokalen Kontext, die nicht eine perfekt abgestimmte Choreographie vorgeben, sondern ein heterogenes Zusammenspiel zulassen. Ziel der workshops sei es, Momente von Selbstermächtigung und emanzipative Allianzen zu schaffen. Übersehene Potenziale, Imperfektion, Dissonanzen – alles findet hier unter dem Motto zusammen, das Senatore auch als Ausstellungstitel für Salzburg wählte: „We Rise by Lifting Others“, frei übersetzt etwa ´wir wachsen, indem wir andere bestärken´. Denn Senatore glaubt daran, mittels körperlichen Ausdrucksformen soziale Polarisierungen – zumindest temporär – aufzulösen und neue Gemeinschaften entstehen zu lassen. Hier also werden all die Freiwilligen auf die Parade eingestimmt, um dann im Juni in den Straßen Salzburgs ein „lyrisches Fest der Gemeinsamkeit“ zu feiern.

Marinella Senatore. We Rise by Lifting Others, Ausstellungsansicht, Museum der Moderne Salzburg 2023, © Museum der Moderne Salzburg, Foto: Rainer Iglar


veröffentlicht in: Die Presse, 23.4.2023
Museum der Moderne Salzburg, 22.4.-8.10.2023