Trotz Corona konnte die 11. Berlin Biennale Anfang September mit drei Monaten Verspätung doch noch eröffnen – und stellt uns wieder vor eine neue Herausforderung. Denn diese Biennale in der deutschen Hauptstadt wird nicht über die Qualität der Kunst definiert, sondern programmatisch über konventionssprengenden Konzepte. Einmal war es eine dezidiert politische Ausgabe, die fast ohne Kunst auskam, dann ein auf Lifestyle getrimmter Parcours. Ein „Austausch verschiedener Perspektiven“ lautet die von der Foundation vorgegebene, offizielle Beschreibung dafür, die heuer zu einem südamerikanisch-spanischen Team geführt hat. Ursprünglich sollten Lisette Lagnado und Agustín Pérez Rubio mit Konzepten gegeneinander im Wettbewerb um die 11. Berlin Biennale antreten. Sie taten sich zusammen, luden noch die Kolleginnen Maria Berrios und Renata Cervetto dazu und gewannen das Rennen. Mit ihrem Titel geben sie sofort die Richtung an: „Der Riss beginnt im Inneren“. Es ist ein Zitat der ägyptischen Dichterin Iman Mersal und „thematisiert die zahlreichen Geister der Mütterlichkeit“ und „höhlt die mit ihnen verbundenen Moralvorstellungen unserer Zeit aus“, wie sie im Austellungsführer schreiben. Es geht um Dissens, aber nicht im Sinne des Tabula Rasa der Moderne, des Bruchs mit Vergangenem, um Platz für Neues zu schaffen – das sei schließlich von den „weißen Vätern“ ein „Gerüst für den Erhalt verfallender Strukturen“ – ihr bevorzugtes Angriffsziel. Ihr Dissens ist im Sinne der „Anerkennung der Risse im System“ gemeint, ein Verneigen „vor der solidarischen Verletzlichkeit der Heilenden und Fürsorgenden, der Kämpfenden, vor ihren Frakturen und ihrer Macht“. Das klingt kämpferisch, emotional und pathetisch, und genau das sind die Werke der 66, großteils aus Südamerika stammenden Künstler*innen dieser 11. Berlin Biennale auch – manches darunter bis zur Unerträglichkeit.
Wie gerade gerne von Kuratoren praktiziert, begann die Biennale bereits vorab im September 2019 mit kleineren, die lokale Bevölkerung adressierenden Veranstaltungen. Dafür zog das Team in den Berliner Arbeiterbezirk Wedding, in einen Raum auf dem ehemaligen Produktionsgelände der Fabrik Rotaprint AG. Hier ist jetzt das „Lebendige Archiv“ mit den Ergebnissen der workshops untergebracht, als einer der vier Orte der „Epilog“ genannten Hauptausstellung. Die DAAD-Galerie ist zum „Schaufenster für dissidente Körper“ geworden, vor dem großen Fenster hat Delaine Le Bas ein buntes Durcheinander aus Tüchern, Kleidern und Ästen arrangiert – laut Erklärung ein „Kampf gegen die Unterdrückung“ und die Verkörperung eines „neues Seins“ – Worte sind geduldig. Der traditionelle Hauptort namens Kunstwerke trägt den Titel „Die Antikirche“, im großen Eingangssaal sind die von gewaltsamer Sexualität erzählenden Zeichnungen des jung verstorbenen Brasilianers Pedro Molareida Bernardes zu einem Altar zusammengestellt.
Davor liegt die Skulptur des Südkoreaners Young-jun Tak: Zehn lebensgroße Gekreuzigte bilden einen Kreis, die Körper sind mit Anti-LGBTQI-Fylern beklebt – seine Adaptierung einer Aktion christlicher Protestler, die in Südkorea mit Menschenketten die jährliche Pride-Parade blockieren. Im Text zu diesem Kapitel ist von der Befreiung „der kollektiven Körper von patriarchalischer Gewalt“ die Rede, von „feministischer Solidarität“, „matriarchalischen Allianzen“ und “spirituellen Heiler*innen“. Große Worte, denen für unsere Kunstkriterien allzu theatralische Werke folgen, etwa das Video von acht Mitgliedern einer Tempelgemeinschaft oder die Videocollage mit singender Meerjungfrau.
Große Ausnahme: Die im türkischen Gefängnis entstandenen Zeichnungen der kurdischen, heute in London lebenden Zehra Dogan – in düsteren Bildern erzählt sie von Folter, aber auch Solidarität der Frauen.berlin biennale 11 2020 bb11_Gropiusbau_©_Mathias_VoelzkeIm Gropius Bau dann entfaltet das Konzept endlich seine Wucht. „Umgekehrtes Museum“ ist es betitelt, gleich zu Beginn werden die – westlichen – ethnographischen Sammlungen angeprangert, im Kuratorentext beschrieben als „kleine Glassärge“, die die „Scherben zerbrochener Welten, das dort erbeutete Gut“ bergen. Sandra Gamarraa Heshiki versieht auf Folien aufgezeichneten Inka-Figurinen in den Vitrinen mit Worten, die von den emotionalen Verletzungen durch museale Kategorisierungen erzählen. Später sehen wir schwebende Steine, die das Kreuz des Südens thematisieren, Wandarbeiten aus Seilen, die auf schamanische Traditionen referieren, jede Menge Selbstfindungsversuche und dazwischen noch Art Brut aus Brasilien. Oft dienen semitransparente Tücher als Raumteiler. Dadurch entstehen leise Überlagerungen der Werke, etwa einer Video-Tanzperformance mit Käthe Kollwitz´ Zeichnungen.
Am Ende allerdings ist man völlig ermattet von dem ungewohnten Pathos vieler Werke und dem Stakkato der vielen Risse: Koloniale Gewalt, der Kampf um die Rechte von First Nations und immer wieder kämpferische Frauen. Das Team spricht von „emanzipatorischen Kosmologien“, die von Hoffnung auf Veränderung handeln, auf Solidarität, sogar auf die Rettung der Welt. Aber dieser Weg basiert zumindest in ihren Texten auf wortgewaltigen Anklagen, vor allem gegen die „weißen Väter“. In dieser Ballung beginnt man bald zu befürchten, dass die Risse schon viel zu tief sind, um die zerrissenen Weltbilder wieder zusammenzubringen. Herausfordernd, das jedenfalls ist wieder einmal gelungen, ist diese Berlin Biennale auf jeden Fall.
(11. Berlin Biennale, 5. September – 1. November 2020)
veröffentlicht in: Die Presse, 21.9.2020