Dreimal schallt laut eine Hupe durch die große Halle. Dreimal geht das Licht aus. Dann wird der Boden hinter dem schwarzen Tuch erhellt. Einen Atemzug lang sieht man eine Bühne voller Müll. Es folgt ein Schrei und nach 35 Sekunden ist wieder alles dunkel – Samuel Beckett schrieb „Breath“ im Jahr 1969. Aufgeführt wird es jetzt alle zwanzig Minuten auf der 11. Lyon Biennale. Seit 1991 findet in der ehemaligen Industriestadt im Osten Frankreichs die Biennale statt. Ursprünglich gegründet, um französische Künstler außerhalb Paris´ zu zeigen, wurde schon mit der zweiten Ausgabe der enge nationale Horizont erweitert. Dieses Jahr verspricht die argentinische Kuratorin Victoria Noorthoorn einen Blick nicht nur über Frankreich, sondern über die westliche Kunst hinaus, denn sie lud 78 KünstlerInnen mit dem Schwerpunkt Lateinamerika und Afrika ein.
Leitfaden ihrer Auswahl ist die Widersprüchlichkeit unserer Gegenwart. Als vieldeutigen Titel wählt sie eine berühmte Zeile von W. J. Yeats: „Eine schreckliche Schönheit ist geboren“, die aus dem Gedicht „Easter“ stammt. Der irische Dichter schrieb das Gedicht in Gedenken an die Opfer des Osteraufstandes 1916 in Dublin. Noorthoorn allerdings verzichtet auf einen konkreten politischen Bezug und fragt: „Gibt es eine Schönheit, die nicht schrecklich ist? Beschönigt die Schönheit die harte Wirklichkeit oder beleuchtet, ja vergrößert sie nur deren Schrecken.“
Das sind weittragende Überlegungen, die Noorthoorn ihrer sehr theatralisch inszenierten Auswahl voranstellt. Der Parour beginnt in der ehemaligen Zuckerfabrik am Ufer der Saone. Durch einen immensen Vorhang (Ulla von Brandenburg) betreten wir die Halle, schauen auf gestapelte Särge (Barthélémy Toguo), beobachten einen nackten Mann dabei, wie er mit langen Gummiriemen erfolglos die vier Säulen einzureißen versucht (Laura Lima) und wie Wasser in einem Bodenloch verschwindet, um dann wieder hoch zu strudeln (Eduardo Basualdo).
Mittendrin steht ein riesiger Kessel, den Robert Kusmirowski in eine desolate Bibliothek verwandelte, in der einige verbrannte Bücher auf dem Boden liegen. Es sind allesamt suggestive, manchmal gewagt pathetische Bilder, die bedrohlich bis spukhaft wirken, in denen ein düsteres Bild unserer Welt entworfen wird. Damit dies auch im white cube des Musee d´art contemporain gelingt, sind dort die Wände durchbrochen (Judi Wertheim), der Fußboden hochgeklappt (Gabriel Sierra) und wohltuenderweise dazwischen immer wieder stille, minimalistische Beiträge platziert: Milan Grygars „Akkustische Zeichnungen“ aus den 1960ern, Jorge Macchis Uhr, die wie der Mond zu verschwinden scheint, oder Arturo Herreras Collagen, die mit Erinnerung und dem Versprechen auf Ganzheit faszinieren.
Gerade diese Werke versetzen das überschwänglich theatralische Grundkonzept in ein dringend notwendiges Gleichgewicht. Denn bisweilen gerät die Inszenierung in eine gewagte Nähe zum Jahrmarkt: Zwischen den düsteren Menschenbilder von Marlene Dumas und Alberto Giacometti bedecken die schwarzen Wollfäden aus Cildo Meireles eigentlich fantastischer, alles überwuchernden „Hexen“-Installation den Boden. Hier aber wird es zur Geisterbahn und knallt die Tür für subtilere Erwägungen zu. Komplett grenzwertig sind Marina De Caros viel zu verspielten Puppenmonstern, und nur noch effekthascherisch ein gigantischer Fisch von Michel Huisman – der zusammen mit Laura Limas bunt gefärbten Hühnern den dritten Ort, eine abrissreife, ehemalige Seidenspinnerei am Stadtrand von Lyon dominiert. In solchen Werken ist die „harte Wirklichkeit“ nicht mehr verdichtet, wird nicht in eine künstlerische Fiktion verwandelt, sondern ins Kitschig-Beliebige übertrieben.
Aber vor dem Gebäude ist ein schmaler Streifen eines barocken Gartens inmitten der Brache angelegt, der den Ausflug hierher mehr als rechtfertigt. Jorge Macchi zitiert mit „Marienbad“ den berühmten Film von Alain Resnais von 1961, der eine in Ritualen erstarrte, labyrinthische Welt zeigt. Auch Macchis Garten in Lyon erzählt von einer Welt im Umbruch, verwebt politische Zeiten und poetische Räume miteinander. Wie „Marienbad“, so ist insgesamt diese 11. Lyon Biennale ein inszeniertes Terrain, auf dem wie in Becketts „Breath“ unsere Welt vorgeführt wird – eine Welt, in der die Kunst zwischen Schönheit und Schrecken nicht mehr unterscheidet.
11. Lyon Biennale, 15.9.-31.12.2011
publiziert in: Die Presse, 20.9.2011
http://diepresse.com/home/kultur/kunst/694388/Kunstbiennale-in-Lyon-zeichnet-ein-duesteres-Bild-der-Welt