Warum ist die Retrospektive von Sanja Ivekovic in der Kunsthalle Wien?

22. Okt. 2022 in Ausstellungen

Ausstellungsansicht: Sanja Iveković. Works of Heart (1974–2022), Kunsthalle Wien 2022, Foto: Boris Cvjetanović

Überall auf den Stufen im Stiegenhaus der Kunsthalle Wien liegen  zusammengeknüllte, rote Papiere auf dem Boden. Im Hauptraum können wir kaum durch die Ausstellung von Sanja Ivekovic gehen, ohne dauernd darauf zu treten. Auseinandergefaltet liest man dann den „Report zu gender-basierter Gewalt gegen weibliche Flüchtlinge in Österreich“: 2017 wurden 20 Prozent der Frauen im Land Opfer physischer oder sexueller Gewalt, Tendenz steigend, wird erklärt – eine Problem, das gesellschaftlich sozusagen mit Füßen getreten wird. Ein Problem, das zentral ist im Werk von Ivekovic. Mit ihrem feministisch-aktivistischen Werk seit den 1970er Jahren gilt Ivekovic als eine der einflussreichsten Künstlerinnen Ex-Jugoslawien. 2012 nahm sie prominent mit einem roten Mohnfeld auf dem Friedrichsplatz an der documenta 12 teil – die Blumen sah sie als Bild für Revolution, Widerstand, Kampf, wie sie damals erklärte. Jetzt ist ihr Werk in der Kunsthalle Wien erstmals in Österreich in einer großen Retrospektive zu sehen.
Warum aber ein Rückblick der kroatischen Künstlerin in der doch auf neueste Kunst programmierten Kunsthalle? Wäre dafür nicht das MUMOK die weitaus geeignetere Institution, das immerhin acht frühe Werke in ihrer Sammlung hat? Ivekovic habe ihre “kuratorische Praxis entscheidend geprägt“, erklärt das kroatische Leitungstrio der Kunsthalle WHW (What, How & for Whom), weswegen die Ausstellung hier auch „wenig überraschend“ sei, erklären sie bei der Einführung. Als Gastkuratorin luden sie die Zagreber Museumsdirektorin Zdenka Badovinac ein, die die Aktualität Ivekovics betont: Die Ausstellung erinnere uns daran, dass „die Kämpfe gegen Geschlechterungleichheit und Faschismus“, dass „alternative Kanäle für emanzipatorische Propaganda“ nach wie vor wichtig seien.

Ausstellungsansicht: Sanja Iveković. Works of Heart (1974–2022), Kunsthalle Wien 2022, Foto: Boris Cvjetanović

So nimmt uns also die Kunsthalle Wien auf eine Reise mit, die im Blick zurück das Heute thematisiert? In den frühen Werken arbeitete Ivekovic viel mit Zeitungsausschnitten, wenn sie etwa 1975 einer Seite aus der italienischen Kunstzeitschrift „Flash Art“ mit Fotografien von – westlichen – „Frauen in der Kunst“ ihre Zeichnungen von anonymen Frauen in der jugoslawischen Kunst zur Seite stellte, um die ideologische Aufladung dieser Liste herauszustellen. Oder in „Papierfrauen“ (1976-´77) Frauendarstellungen aus Zeitschriften durch Zerreißen, Zerkratzen und Durchstechen dekonstruiert, um weibliche Rollenbilder in den Blick zu rücken. 2016 drehte sie als Auftragsarbeit der Erste Stiftung einen Film mit zwanzig „unsichtbaren Frauen des Erste Campus“, kurze Videoportraits der Reinigungskräfte in dem Bürokomplex. Seit 1998 läuft ihr Projekt „Frauenhaus“. Die Künstlerin organisiert workshops, bei denen die Frauen über ihre Gewalterfahrungen reden. In der Kunsthalle sehen wir die Gipsabdrücke der Gesichter, dazu Videodokumentationen und wie Werbeanzeigen angelegte Plakate. Man sieht hübsche Fotomodelle mit schicken Sonnenbrillen, dazu in Kurzform anonymisierte Erzählungen, wie die Frauen dem Kreislauf der Gewalt entkamen. Während die frühen Arbeiten in der kleinteiligen Collagentechnik kaum über ihre kunsthistorische Relevanz hinauswirken, treffen Ivekovic „Frauenhaus“-Serien in ihrer plakativen bildnerischen Sprache bis heute den Nerv unserer Zeit.
Allerdings stellt sich hier zugleich eine andere Frage, die Badovinac in ihrem Einführungstext auch anspricht: Bei all dem aktivistischen Anspruch, wie sehr kann Kunst eine Gesellschaft wirklich verändern, wie kann Kunst der Gewalt gegen Frauen entgegenwirken? Ivekovics Kunst ziele mit der Methode einer „emanzipatorischen Propaganda“ darauf, die Aufmerksamkeit auf „ausgeschlossene Geschichten und marginalisierte gesellschaftliche Gruppen“ zu lenken, schreibt Badovinac. Und stellt auch fest, dass „die Inklusion von bislang Ausgeschlossenem nur das bestehende (Kunst-)System“ stärke. Denn so wird meist lediglich Verantwortungsbewusstsein demonstriert.

Ausstellungsansicht: Sanja Iveković. Works of Heart (1974–2022), Kunsthalle Wien 2022, Foto: Boris Cvjetanović

Um dem entgegenzuwirken, steigere Sanja Ivekovic durch ihre Kunst „die Sichtbarkeit des Ungesehenen“ und belasse es „zugleich in seiner Undurchschaubarkeit“, ohne „erkennbare Identität‘“, als eine „unsichtbare Kraft des Realen“. Das klingt wunderbar poetisch und verklärt geschmeidig die weitgehende Wirkungslosigkeit von Kunst. Daran anschließend fragt man sich, ob das Format einer – rückwärtsgewandten – Retrospektive überhaupt sinnvoll ist angesichts einer Kunst, die die Welt verändern will. Und dies noch dazu in der Kunsthalle Wien: In den letzten Jahren steht das Haus für ein Nischenprogramm, in dem gerne Nischenaspekte thematisiert werden – wodurch das Haus allerdings zu einer Nischenhalle wurde. Dem versucht Ivekovic entgegenzuwirken: Ihre Frauenhaus-Plakate werden in Kooperation mit der Brunnenpassage am Yppenplatz auch im öffentlichen Raum gezeigt – ob zumindest hier die kurzen Geschichten der Frauen Betroffene motiviert, ihr Leben zu ändern?

Kunsthalle Wien, 4.10.2022-12.3.2023

veröffentlicht in: Die Presse, 7.10.2022