Keine andere Ausstellung weltweit wird mit so viel Spannung erwartet wie die documenta. Alle fünf Jahre findet diese größte und wichtigste Schau zeitgenössischer Kunst in Kassel statt und gilt als Barometer aktueller Diskurse und künstlerischer Tendenzen. Heuer allerdings ist alles anders. Das beginnt schon mit dem Austragungsort. Denn die 1955 gegründete Schau startet in Athen. Kurator Adam Szymczyk beschloss eine Verdoppelung der documenta und entschied sich für Griechenland, als das Land wegen der Schuldenkrise kurz vor dem Ausschluss aus der EU stand. Das ist unterdessen vom Tisch, jetzt steht es für eine „sehr harte Wirklichkeit“, wie er im Interview sagte. Als Titel wählte Szymczyk „Lernen von Athen“ – aber was soll man mit den Mitteln der Kunst aus einem wirtschaftlich instabilen Land lernen, von Banken-, Staats- und Sozialkrisen?
Vorab wurden Magazine unter dem Titel „South as a state of mind“ publiziert, seit Wochen fanden in Athen „Freiheitsübungen“ statt und Szymczyk spricht immer wieder vom „Parlament der Körper“, denn wir sollen „wie politische Subjekte handeln, anstatt das den gewählten Vertretern zu überlassen“, forderte er auf der Pressekonferenz. Darum ließ er wohl auch nicht den Kasseler Oberbürgermeister auf die Bühne, der dann seine vorbereitete Rede kurzerhand zur Eröffnung der Maria Lassnig-Ausstelllung hielt, die im Rahmen des Parallelprogramms in der Städtischen Galerie läuft.
Wieviel Raum bleibt bei so viel kuratorischem Über- und Unterbau dieser documenta in Athen noch für die eigentliche Kunstausstellung? Kaum etwas, und das ist die zentrale Lektion. Jedenfalls nicht in der gewohnten Weise als thematisch konsistente Ausstellung. Auch das ist Konzept, schließlich sollen wir „verlernen, war wir zu wissen meinen“, wie der in Polen geborene ehemalige Leiter der Kunsthalle Basel betonte. Und uns zugleich warnte: Wir sollten nicht sofort zu den vier Hauptausstellungsorten hasten, sondern uns Zeit für den Weg durch Athen lassen. Allerdings sind die Beiträge der 160 KünstlerInnen auf 46 Ausstellungsorte verteilt, in Privathäusern, Schulen, Bibliotheken, Parkanlagen, bis zum Archäologischen Museum in Piräus. Achtet man nicht akribisch auf die einzelnen Öffnungszeiten, steht man oft vor verschlossenen Türen. Andere Orte dieser documenta in Athen sind zwar leicht zu finden wie der Filopappou Hügel nahe der Akropolis, aber der Weg zu dem wunderbaren Zelt aus Marmor von Rebecca Belmore ist nicht angezeigt. Die kanadische Künstlerin hat eine behelfsmäßige Unterkunft in einen Dauerzustand verwandelt – ein starkes Bild in Athen, wo jeder Fünfte Migrant ist.
Aber wir haben nicht auf Szymczyk gehört und sind doch zu jenen Räumen gehastet, in denen die meisten Künstler versammelt sind. Hätten wir doch wenigsten mit dem Odeion genannten Konservatorium angefangen, wo der österreichische Künstler Peter Friedl seinen faszinierenden Film „Report“ zeigt: 25 in Athen lebende Migranten rezitieren jeweils einzelne Passagen aus Franz Kafkas „Bericht für eine Akademie“. Darin erzählt der Affe Rotpeter von seinem Anpassungsprozess an die Menschen – die Parallelen zur Situation der Akteure sind unübersehbar. Nebenan in dem kalten Beton-Auditorium läuft die Installation „The Way Earthly Things Are Going“ des nigerianischen Klangkünstlers Emeka Ogboh: Aus Lautsprechern klingen gesungene Geschichten über Finanzkrisen seit 1929, dazu laufen auf einem friesartigen LED-Display Aktienkurse, grün jene im Plus, rot jene im Minus.
Oder in das Benaki Museum. Folgen die Werke im Odeion dem roten Faden Migration und Kapital, so ist es in dem privaten Benaki Museum Zeitgeschichte, mal verinnerlicht wie Roee Rosens Zeichnungen und Texten, mit denen sie sich in Hitler Geliebte Eva Braun einzufühlen versucht – ist das Zynismus? Paradoxerweise kombiniert mit dokumentierenden Werken wie Tshibumba Kandu-Matulus naiv gemalte Bilder, in denen er 1973-´74 im Auftrag eines deutschen Anthropologen das Zeitgeschehen im Kongo festhielt. Und erinnernden Beiträgen wie Nilima Sheikhs große Tücher über Leid und Gewalt in Kaschmir.
Aber nein, wir begannen unsere documenta-Athen-Tour im EMST. Dieses Nationale Museum zeitgenössischer Kunst sollte schon vor fünf Jahren eröffnen, was auf Geldmangel bisher unterblieb. Jetzt kommen hier mehr als 70 Beiträge der documenta zusammen, in einer ärgerlichen Willkürlichkeit, die Schlagworten wie „Gender und Genres“, „Arbeit und Liebe“, „die Bank und das Museum“ folgen sollen – diffus, verworren, qualitativ disparat. Da sortiert Hans Eijkelboom in einem Video die Menschen nach den Mustern ihrer Oberbekleidung, einen Schritt weiter sehen wir in Vakuum verpackte Alltagsfragmente von Danai Anesiadou, Olu Ogubes fleissige Buchsammlung zum Thema Biafra, historische Propagandamalerei aus Albanien – warum gerade aus dem Land? Hitler, Golfkrieg, Arbeiterbewegung – offenbar hatte Szymczyk plötzlich Sorge, irgendein Thema zu übersehen und hat hier alles hineingestopft, was sonst keinen Platz fand.
Da ist selbst die Athen Kunstschule mit all den Werken zu Ungerechtigkeiten, Umweltverschmutzung und alternativen Gesellschaften zumindest thematisch überzeugend, wenn auch qualitativ oft quälend. Was also lernen wir von Athen? Die documenta ist offenbar zum Schnellkurs aller Minderheiten, Probleme und Übel der Welt geworden. Und wir sollten unbedingt den Ansagen des Kurators folgen.
veröffentlicht in: Die Presse, 11.4.2017