„Architektur ist nicht in erster Linie dazu da, um Geld zu machen, sondern sie sollte sich in den Dienst des öffentlichen Guts stellen.“ Mit dieser klaren Aussage fasst der 1967 in Chile geborene Architekt Alejandro Aravena sein Grundkonzept der 15. Architektur Biennale Venedig zusammen. Und er liegt damit voll im Trend der Zeit, denn das zentrale Stichwort lautet ´Gemeinwohl´ – als Ausweg aus dem Raubtierkapitalismus unserer Zeit, in dem Gewinnmaximierung jede Idee von Gemeinschaft verdrängt.
Oder wie es Aravena für die 15. Architektur Biennale Venedig schreibt: „Wir wollen verstehen, welche gestalterischen Mittel benötigt werden, um die Kräfte zu unterwandern, die individuellen Gewinn über das Gemeinwohl stellen und das ´wir´ auf das ´ich´ reduzieren.“
Tatsächlich halten sich nahezu alle 65 Länderpavillons plus 20 Kollateralveranstaltungen dieser 15. Architektur Biennale Venedig an diese Vorgabe. Unter dem kämpferisc hen Titel „Reporting from the front“ gibt diese Biennale vielfältige Antworten auf dringende Fragen bzw. Krisen unserer Zeit: die Flüchtlingssituation, die urbane Krise mit Problemen wie Armut und verfehlter Integration; Raum und Gemeinschaft in Zeiten von Privatisierung des öffentlichen Raums; die Krise des Architektenberufs. Zu den stärksten Beiträgen gehört der deutsche Beitrag „Making Heimat“. Als Zeichen der gesellschaftlichen und politischen Öffnung ließ Generalkommissar Peter Cachola Schmal, Direktor des DAM Frankfurt, vier Wände des denkmalgeschützten Pavillons durchbrechen – ein offenes Haus als politisches, städtebauliches und architektonisches Statement. Auf die Wände sind Fotografien und Slogans affichiert, die einen Perspektivwechsel auf Einwandererviertel und Erstaufnahmeeinrichtungen vorschlagen.
Auch der Österreichische Pavillon stellt Flüchtlinge in den Mittelpunkt: Drei Architekturteams (Caramel Architekten, EOOS, the next ENTERprise-architects) bauen temporäre Unterkünfte in Wien – von denen in Venedig leider kaum etwas zu sehen ist, denn die Präsentation begnügt sich mit teils kryptischen Verweisen auf die Projekte.
Die sich aus der neuen Situation ergebenden, unterschiedlicher Lebenssituationen beantwortet der Britische Pavillon mit „Five new models for domestic life“: Wohnungen für Stunden, für Tage, Monate, Jahre und Dekaden – eine Suche nach Möglichkeiten, Immobilienspekulationen zu verhindern.
Einen umgekehrten Blick schlägt Kurator Malkit Shoshan im Holland Pavillon der 15. Architektur Biennale Venedig vor: Er fragt, welche Wirkung die Friedenstruppen der UN im Camp Castor in Mali haben und wie UN-Lager als Katalysator für lokale Entwicklungen zu gestalten wären. UN-Stationen werden vom Militär als isolierte Inseln entworfen, die bisher nur auf Verteidigung basieren, ohne Hinwendung zur lokalen Bevölkerung.
Der gesamte Pavillon ist entsprechend der UN-Blauhelme blau eingefärbt – blau dient hier als Metapher für Konflikte. Unerwartet ist auch der Pavillon der West-Sahara: Die ehemalige Kolonie wurde 1975 von Marokko okkupiert, rund 160.000 Sahrawis flohen nach Algerien.
Dort leben sie in den weltweit einzigen, sich selbst regierenden Flüchtlingslagern. In der Architektur der Schulen und Regierungsgebäude wird die besondere Situation sichtbar, die zugleich permanent und temporär ist und Tradition mit Moderne verbindet. Eigentlich gehört dieser Pavillon zur zentralen Ausstellung, aber der Schweizer Architekt Manuel Herz bestand darauf, die Fotografien, eigens gewebten Teppichen und kurzen Information in einem eigenen Zelt zu präsentieren.
In nahezu jedem Pavillon schwingt die Frage nach einer Architektur der Gemeinschaft mit. Da wird ein verfallenes Gebäude aus gefundenen Materialien gemeinsam wieder aufgebaut (Ungarn) und ein Schwimmbad dient als Sinnbild für den öffentlichen Raum (Australien). Während man bequem in den Liegestühlen sitzt, hört man in acht Interviews von den gravierenden Folgen des Verschwindens öffentlicher Bäder.
Andere Pavillons konzentrieren sich auf eine Analyse der Wohnungssituation: die Tendenz, immer mehr Wohnraum auf immer geringerem Baugrund unterzubringen (Floor Area Ratio Game in Korea). Der Spanische Pavillon, der heuer den Goldenen Löwen gewann, befasst sich mit durch die Wirtschaftskrise unvollendeten Wohnungsbauprojekten und für die Vereinigten Arabischen Emirate ließ Kurator Yasser Elsheshtawy die National Houses analysieren.
In den 1970er Jahren für eine neue, urbane Generation gebaut, wurden die Häuser im Laufe der Jahre von den Bewohnern adaptiert. Diese Veränderungen dienen jetzt als Ausgangspunkt für neue Modelle, die von Beginn an modular gestaltet werden sollen.
All diese Themen durchziehen auch die von Alejandro Aravena hervorragend kuratierte Gruppenausstellung, die im Arsenal programmatisch beginnt: 100 Tonnen weggeworfene Gipsplatten sind horizontal geschichtet, darauf sind verworfene und ungefragt eingesandte Konzeptkorrespondenzen affichiert. Darüber schweben bedrohliche Metallstangen, wohl als Sinnbild der allgegenwärtigen Krisen. Die Materialien sind die Abfälle der letzten Biennale 2016, die Aravena jetzt als Material für Neues dienen. Dafür stellte er 88 Architekturbüros zwei zentrale Fragen: Welches vordringliche Probleme wollen Sie mit Ihrem Beitrag angehen? Wie sieht Ihr Lösungsvorschlag aus? Sinnvolle Nutzung vorhandener Materialien (Ziegel und unqualifizierte Arbeitskräfte in Paraguay in Solano Benitez´ Bogen), Nachhaltigkeit (Müllmanagement für Nomaden in der Mongolei), Rückaneignung öffentlicher Räume, menschenwürdiger Wohnungsbau, Schulen – in nahezu jedem Projekt steht die Gemeinschaft im Mittelpunkt und beweist damit eindrücklich Aravenas zentrale These: Architektur kann Ungleichheit bekämpfen: „Es gilt, die Kreativität und Kraft aufzubringen, Hürden zu überwinden und daran zu denken: Diese Bauten können das Leben von Menschen verbessern oder auch ruinieren. Hier ist die Front, an der Architektur zu kämpfen hat.“
15. Architektur Biennale Venedig, Reporting from the front, 28.5.-27.11.2016
veröffentlicht in: Kunstforum Bd. 241, August 2016