Starke Pläne hatte sie letztes Jahr zur Artissima bekanntgegeben: Die Turiner Kunstmesse sollte verkleinert werden und in die Stadt wandern. Bisheriger Austragungsort ist eine außerhalb gelegene, 20.000 Quadratmeter große Eishalle, die 2006 für die Olympischen Winterspiele gebaut worden war. Als ehemalige Industriestadt verfügt Turin über großartige, leerstehende Hallen, ein neues Quartier in der Stadt wäre spannend gewesen. Zudem eröffnen immer pünktlich zur Kunstmesse bemerkenswerte Ausstellungen in der Stadt.
So thematisiert heuer der kubanische Künstler Carlos Garaicoa in der Fondatione Merz in seiner raumgreifenden Installation die Geschichte Turins, baut faschistische Architekturen als Modell nach und lässt daraus merkwürdige Glasblasen austreten. Sie seien von Salvador Dali inspiriert, erklärte er im Gespräch, eine „surreale Geste“, eine Interaktion der Kunst mit diesen Bauten.
Aber nach fünf Jahren wurde Sarah Cosulichs Vertrag nicht verlängert. Eigentümer der Artissima sind die Region Piemont, Metropole Turin und die Stadt Turin, die regelmäßig die Messeleitung austauschen. Eine Jury entschied sich im Dezember 2016 für Ilara Bonacossa. Die 43jährige arbeitete zuvor als Kuratorin, seit 2012 als künstlerische Direktorin im Museum Villa Coce in Genf und ist für die Ausgaben der Messe bis 2019 verantwortlich. Jetzt eröffnete also die 24. Artissima unter ihrer Leitung. Insgesamt nahmen heuer 206 Galerien aus 32 Ländern teil, darunter 15 aus Berlin, 9 aus Wien. Große Veränderungen hat Bonacossa nicht vorgenommen, die meisten Sektionen sind erhalten. Und doch hat sie der Artissima einen völlig neuen Auftritt verpasst.
Das beginnt bereits bei der Sonderausstellung, mit der immer private Sammlungen in die Messe eingebunden werden. Bonacossa entschied sich für einen Italienschwerpunkt: In der eigenwilligen, an ein überfülltes Lager erinnernden Präsentation „Deposito d´Arte Italiana Presente“ kommen Werke von 128 italienischen Künstlern seit 1994, also dem Gründungsjahr der Artissima, in einem Regalsystem auf engstem Raum zusammen. An jedem Werk hängt ein Namensschild, wie in einem „Warenhaus“, wie es Bonacossa nennt. Der Titel ist eine Referenz an die gleichnamige Ausstellung 1967-68 in der damals noch jungen Galerie Enzo Sperone in Turin, die als Beginn der Arte Povera gilt. Diesen klaren Schwerpunkt auf die nationale Kunst setzt sie mit einer Neuerung fort: Statt der für Messen einzigartigen Performance-Sektion installierte Bonacossa ein weiteres und damit drittes Gesprächs-Programm, betitelt nach der legendären Diskothek „Piper“ in Rom – „um den Geist jener Zeit“ vor 50 Jahren aufzugreifen.
Neu ist auch die Sektion „Disegni“: Zeichnungen seien wegen deren Unmittelbarkeit ihre Leidenschaft, erklärte Bonacossa, und das Medium spreche besonders junge Käufer an.
Wie schon ihre Vorgängerin so arbeitet auch Bonacossa mit Kuratoren zusammen, für „Disegni“ lud sie die beiden Direktoren der Kunsthalle Lissabon ein, die 26 Galerien auswählten. Zu sehen ist eine Mischung aus traditionellen Zeichnungen, Aquarellen und Illustrationen, darunter auch Zeichnungen der fast vergessenen Vanessa Beecroft, die um die Jahrtausendwende mit ihren Performances voller nackter Frauen Aufsehen erregte. Zusammen mit der „Present Future“-Sektion für junge Kunst stehen die insgesamt 49 eher winzigen Stände jetzt mitten im Zentrum der Messe. Dafür rückte Bonacossa den bisherigen Höhepunkt der letzten Ausgaben, die „Back to the future“-Abteilung, an den äußersten Rand. Dort zeigen 29 Galerien Kunst aus den 1980er Jahren – eines Jahrzehnts, das noch in sehr frischer Erinnerung ist. Damals wurde die streng konzeptuelle und politische Orientierung der 1970er-Kunst beendet, die freche Malerei der Jungen Wilden begann, in der USA wurden Aneignungsstrategien entdeckt, in Italien entstand mit der Transavantguardia ein spannender Eklektizismus – und nichts davon ist hier vertreten. Stattdessen haben sich die drei Kuratoren für KünstlerInnen entschieden, die außerhalb des Marktes blieben. Und wohl bleiben werden, könnte man bei den meisten prognostizieren.
Auffällige Kunst des letzten Jahrhunderts findet man eher in den Galerien der Hauptsektion, Objekte des italienischen Bildhauers Fausto Melotti aus den 1980ern oder die überlappenden Transparentfolien von Bruno Munari aus den 1950ern (Repetto Gallery). Großartig die Papierarbeiten der Schweizerin Miriam Cahn (Galerie Jocelyn Wolff), die 1984 an der Biennale Venedig teilnahm. Oder der Pionier der Abstrakten Fotografie, Grey Crawford. Der Künstler der US-Westküste retouchierte in den 1960er Jahren seine Gelatine-Drucke in der Dunkelkammer, klärte die Linien, bereinigte die Flächen. Sein Werk ist nahezu unbekannt, irgendwann wechselte er in den Brotberuf Architekturfotografie – bis er jetzt von seinem Schulfreund und Galeristen Taik Persons wiederentdeckt wurde.
Die entscheidende Änderung Bonacossa ist ihr neues Kuratorenteam: „Ich habe absichtlich Jüngere eingeladen, die nicht in Institutionen arbeiten“, erklärte sie im Gespräch, „denn ich möchte die Messe radikaler auf junge Kunst ausrichten.“ Vor allem aber stammt das neue Kuratorenteam heuer erstmals hauptsächlich aus Italien, Spanien, Portugal. Bonacossa: „Wir wollen den Lateinamerika-Bezug stärken.“ Erklärt das die immer wieder beobachtete, veränderte Ästhetik, einerseits thematisch zurückhaltende, formal strenge Werke, andererseits laute, farbintensive Arrangements? In Italien jedenfalls kommt Bonacossas neue Ausrichtung bestens an, 52.000 Gäste besuchten die Messe, 3200 Sammler kauften ein und die italienische Presse feierte die neue Leitung.
veröffentlicht in: Die Presse, 12.11.2017