Verlängerung bis 29. Juli!!
Zum vierten Mal eröffnet die Industrial Biennale in Istrien – und thematisiert „Landscapes of Desire“.
Unberührte Natur, fantastisches Essen, ein „Fest für die Sinne“ – so wird Istrien gerade mit kurzen Werbeeinschaltungen auf Instagram beworben. Schon Ende des 19. Jahrhunderts galt die kroatische Halbinsel als kleines Paradies, in dem Küstenstädtchen Opatija traf sich Europas Adel, woran noch heute prächtige historische Bauten erinnern. Aber es gibt auch eine andere Seite: In Istrien begann bereits 1789 der Abbau von Kohle. Nur wenige Autominuten von der Zeche in Labin entfernt ließ Mussolini 1936 die Stadt Raša bauen. Innerhalb von 547 Tagen als „faschistische Idealstadt“ fertiggestellt, wurden hier italienische Bergarbeiter angesiedelt, die bis 1949 fast eine Millionen Tonne Kohle gewonnen. 1966 musste das Bergwerk schließen. Heute erinnern Fabrikruinen und verfallende Häuser an die frühere Industrialisierung. 2014 griff das Künstlerkollektiv L.A.E. (Labin Art Express) diese Seite Istriens auf und gründete die „Industrial Art Biennale“. Ursprünglich wollten sie einige Minen zu Kulturstätten umfunktionieren. Zwar sind die vielen unterirdischen Verbindungsgänge zwischen Labin und Raša noch immer nicht zugänglich, aber ein Teil der ehemaligen Zeche ist jetzt ein Kulturzentrum – und alle zwei Jahre Hauptort der Industrial Art Biennale.
Gerade eröffnete die vierte Ausgabe unter dem von den beiden Schweizer Kuratoren Christoph Doswald und Paolo Bianci gewählten Titel „Landscapes of Desire“. 29 Künstler:innen führen uns in Pula, Raša, Labin und Rijeka ´Wunschlandschaften´ vor – und die Werke könnten diverser kaum sein. Zwar ist nicht immer das zentrale Thema zu decodieren, aber das Zusammenspiel von Kunst und Ausstellungsort wirkt oft magisch – und das ganz besonders in Raša. Viele Gebäude hier sind verlassen, nicht einmal ein Restaurant gibt es. Die Biennale-Beiträge allerdings entwickeln in diesem desolaten Dorf eine große Intensität, wenn Olaf Nicolai einen Mädchenchor aus der riesigen, leeren Fabrikruine klingen lässt, Igor Grubic im ehemaligen Kino einen großartigen Animationsfilm über Stahlarbeiter zeigt und Werner Feiersingers Istrien-Fotografien in einer ehemaligen Kantine hängen – als würden sie bessere Zeiten beschwören wollen. Und oben auf der Dorfkirche thront ein bekanntes Zeichen: Karin Sander bringt hier jene Form, mit der Google interessante Punkte markiert, nachts zum Leuchten.
Völlig aus der Zeit gefallen erscheint auch der Skulpturenpark Dubrova in Labin. Unter dem jugoslawischen Diktator Tito initiiert, fanden hier ab 1970 Bildhauersymposien ähnlich jener in St. Margarethen am Neusiedlersee statt. Insgesamt entstanden 95 meist im Stil der Moderne entworfene Steinskulpturen verschiedener Künstler, die verteilt im 33 Hektar großen Gelände stehen. Dazwischen irritiert jetzt ein neues Werk: ein Stein, in dem Mengen von Golfschlägern stecken. Die Skulptur gehört zu Christian Jankowskis Biennale-Beitrag. Er ließ in dem Park einen Golf-Parcours mit neun Löchern in die bunten Blumenwiese mähen und lud zu dem „1st Industrial Golf Open“-Turnier ein – an dem auch Kurator Doswald teilnahm und immerhin den fünften Platz belegte. Die Löcher sind wieder verschwunden, die filmische Dokumentation läuft jetzt im Kulturzentrum Labin und schlägt eine Wunschlandschaft aus Kunst plus Golf vor. Wie anders dagegen legt Sonia Leimer ihren Beitrag in dem römischen Augustus-Tempel aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. in Pula an: Auf dem Boden liegen merkwürdige kleine, runde Formen. Leimer sammelte Staubpartikel in dem Touristen-Hotspot und analysierte das Material in Kooperation mit dem Wiener Naturhistorischen Museum. Sie fanden Industriestaubkörner – und kosmischen Sternenstaub. Leimer übersetzte die mikroskopisch kleinen Formen in ihre Skulpturen, die jetzt zwischen den römischen Fundstücken liegen und einen riesigen Zeitbogen umspannen. Brachial dagegen wirkt Lara Almarceguis Haufen neben- und übereinandergestapelten, unbearbeiteten Karstmarmor im Hafen von Pula. Die weißen Steine sind ein Exportgut Istriens, dienen als hochwertiges Material etwa für Hotels rund um die Welt, und scheinen hier als stoische, unbehauene Blöcke auf ihre Verwandlungen zu warten. Welche Wunschlandschaften in den aggressiv-weiblichen Motiven von Talays Schmids Wandteppichen im Museum für zeitgenössische Kunst in Rijeka verborgen sind, ist dagegen weit offen für freie Assoziationen. Der Kontrast zwischen Pula und der Hafen- und Industriestadt an der nördlichen Adria allein aber ist die Fahrt hierher wert – wie überhaupt diese Biennale uns auf eine spannende Reise durch das postindustrielle Istrien schickt.
veröffentlicht in: Die Presse, 10.6.2023
4. Industrial Art Biennal, 13.5.-30.6.2023