9. Istanbul Biennale 2005

17. Okt. 2005 in Biennalen

 

Hala Elkoussy

Hala Elkoussy, 9. Istanbul Biennale

Um es gleich vorwegzunehmen: Die Welt, die uns auf der 9. Istanbul Biennale präsentiert wird, enthält keine Versprechungen mehr. Diese Welt schrumpft auf Einzelphänomene zusammen oder ist zum Problemfall geworden. Und das wird vor allem abgelichtet. So dominieren hier also Fotografie und Video, viel dokumentarisches Material, das bisweilen mit fiktionalen oder inszenierten Elementen vermischt wird. Und diese vorherrschenden künstlerischen Methoden entsprechen genau dem kuratorischen Konzept, das einen klaren Bezugspunkt nennt: der Ort der Ausstellung selbst, Istanbul.

Charles Esche (l), Vasif Kortun (r), Istanbul Biennale Pressekonferenz

Charles Esche (l), Vasif Kortun (r), Istanbul Biennale Pressekonferenz

Gegründet 1987, war es eine der zentralen Vorgaben dieser Biennale, zeitgenössische Kunst an historischen Orten zu zeigen – was vom diesjährigen Kuratorenteam Charles Esche (Direktor Van Abbemuseum, Eindhoven) und Vasif Kortun (Leiter Platform Garanti Contemporary Art Center, Istanbul) konsequenterweise jetzt erstmals durchbrochen wurde. So verteilen sich die gut fünfzig KünstlerInnen jetzt auf sieben alltagsnahe, teils frisch, teils komplett unrenovierte Wohn- und Lagerhäuser.
Aber die Kunst zieht nicht nur räumlich ins Stadtleben ein. Mehr als die Hälfte der gut fünfzig KünstlerInnen der 9. Istanbul Biennale wurde eingeladen, mehrere Wochen bis Monate in der Metropole zu leben und ortsspezifische Projekte zu entwickelt. Keiner kam schnell zu einem Konzept, erzählt Vasif Kortun. So werfen die meisten Werke nur kurze Scheinwerferlichter auf einzelne Beobachtungen, bisweilen simpel-wortwörtlich wie Karl-Heinz Klopf: Scheinwerferkegel erleuchten Treppen, die während der drei intensiven Eröffnungstage von Musikern auf Einladung des Künstlers hin als Bühne belebt wurden. Oder als pure szenische Inszenierung wie im Video des türkischen Künstlers  Halil Altindere: Auf der ´Istiklal Caddesi, der zentralen Geschäftsstrasse im Stadtviertel Beyoglu, filmt er einen Boxkampf, einen Raubüberfall oder auch einen Rapdance.

Dan Perjovschi, 2005

Dan Perjovschi, 2005

Altindere tritt auch als Kurator auf. Auf Einladung der 9. Istanbul Biennale präsentiert er in der zentralen Ausstellungshalle „Antrepo No. 5“ 35 KünstlerInnen aus Istanbul in seiner Ausstellung „Free Kick“, darunter Ahmet Öguts „Book of lost worlds“ mit pop-up-Zeichnungen, Irfan Önürmens „Terror Factory“ mit einem beachtlichen Waffenlager, ausgesägt aus Papierstapeln oder Erim Bayris Landschaft, die direkt in den Wandputz gekratzt ist – oder gehören diese Beiträge bereits zur benachbarten Ausstellung „Lost in Translation“, dem Workshop mit Studenten aus zehn internationalen Akademien?
Anders als in den Werken dieser „Hospitality Zone“, wie es Esche und Kortun nennen, orientieren sich die KünstlerInnen der 9. Istanbul Biennale vor allem am vorgefundenen Alltag. In seinem 80minütigen Film „Murat und Ismail“ entwirft der Italiener Mario Rizzi in Dialogen zwischen einem Schuhhändler und seinem erwachsenen Sohn ein sehr überzeugendes Portrait Istanbuls, der sich wandelnden Berufsbilder, der Generationskonflikte, der rasanten Veränderungen gesellschaftlicher Werte und Ziele. Auf Detailbeobachtungen basieren auch die bemerkenswerten, humorvollen bis bissigen Comicszenen von Dan Perjovschi, die der Rumäne direkt auf die Wände aufzeichnet: gezielte politische Themen wie die Frage nach dem türkischen EU-Beitritt, Beobachtungen der Touristen wie ihre Hetze zum Bazar und viele kleine, spitze Vorurteile, bei denen sich wohl jeder angesprochen fühlt.

Paulina Olowska, Istanbul 2005

Paulina Olowska, Istanbul 2005

Diesen Erkundungsausflügen in das Stadtleben stellen die Kuratoren der 9. Istanbul Biennale den Blick auf Außen zur Seite. Hier präsentiert uns Yochai Avrahami seine Recherchen rund um das Transportsystem mit Minibus-Taxen zwischen Israel und Palästina anhand kleiner, gebastelter Minibusse, Statistiken und Fotografien. Yaron Leshem fotografiert jene surrealen arabischen Häuserattrappen, die dem israelischen Militär zu Übungszwecken dienen und Yael Bartana filmt in ihrem neuen Video eine Gruppe Teenager mit ihrem selbst erfundenen Spiel namens „The Evacuation of Gilad´s colony“: Eine höchst malerische, in sich verknotete Gruppe muss von Zweien auseinander gebrochen werden.
Etwas unklarer ist die Lage in Hala Elkoussys Bilder der Stadtperipherie in Kairo und auch in Smadar Dreyfus Video: Wir sehen Mengen von bunten Badenden, die scheinbar ruhig und ziellos in einem Fluss treiben. Kaum ist das tonlose Bild abgeschaltet, beginnt der bildlose Ton: Warnungen und Suchmeldungen des Bademeisters. Es sind beidesmal suggestiv-poetische Filme, die uns die enorme Lücke zwischen unserer visuellen Wahrnehmung und einem tatsächlichen kulturellem Verständnis deutlich werden lassen.
In diese Lücke geraten wir auch in einem der schönsten Räume dieser Biennale. In einem der unrenovierten Appartments im „Deniz Palas“ liegt ein Teppich der jungen Polin Paulina Olowska auf dem Boden. Das architektonische Muster aus der Vogelperspektive ist kombiniert mit einem einzigen, kleinen Bild Lukas Duwenhöggers, „Sunday Afternoon“: Drei arabisch aussehende Männer sitzen in einem Innenraum. Diese seltsam intime Szene zusammen mit Olowskas Teppich und der vorgefundenen Wandbemalung des Appartments deutet einen verdichteten Blick auf eine mögliche, aber unserem schnellen, neugierigen Auge verborgene Innenseite Istanbuls an.
Solche Momente sind allerdings sehr selten auf dieser Biennale, die ja Faktisches anvisiert. Aber eröffnet uns die Kunst tatsächlich neue Perspektiven auf die Stadt? Umgekehrt gefragt: Kann Kunst einen solchen immensen Anspruch überhaupt einlösen? Sicherlich nicht in einzelnen Werken – das wäre viel zu hoch gegriffen. Aber in der Gesamtheit der Ausstellung, der Räume und Wege dazwischen, des Rahmenprogramms und der vielen Gespräche unterwegs gerät Istanbul immer wieder in den Blick – als Ausgangs- und Bezugspunkt, statt als Kulisse, wie es den letzten Biennalen vorgeworfen wurde. Da wundert es dann auch nicht mehr, dass hier die problematischen statt der poetischen Momente ins Bild gerückt werden – denn deren Bezugspunkt wäre ein subjektiver, während hier nichts weniger als eine kollektiv verbindliche Wirklichkeit zur Debatte gestellt wird. Aber gibt es die überhaupt?

Istanbul Biennale, 16.9.-30.10.2005, www.iksv.org/bienal
publiziert in: www.artnet.de, 17.10.2005
http://www.artnet.de/magazine/9-istanbul-biennale/