Jetzt stationiert die Manifest 2012 also in einem Kohlegebiet. Seit sechzehn Jahren wandert die Biennale alle zwei Jahre von einer europäischen Stadt zur nächsten, platziert in zunehmend politischeren Kontexten, wurde dabei trotz der immer exotischeren Orte immer mittelmäßiger, immer unbedeutender, weil darauf mit Kunst kaum zu reagieren ist: Baskenkonflikt 2004 in San Sebastian, 2006 das teilbesetzt Zypern – was völlig scheiterte, die Manifesta wurde abgesagt; 2008 das zersplitterte Südtirol, 2010 die Region Murcia „im Dialog mit Afrika“, so der damalige Untertitel – können Künstler überhaupt zu Themenkomplexen wie die restriktive Einwanderungspolitik der EU etwas beitragen?
Ursprünglich sollte die Manifesta als „europäische Biennale“ die regionalen, sozialen bis ökonomischen Barrieren innerhalb von Europa überschreiten. Das Konzept der politischen Krisenherde bzw. geopolitisch brisanten Orte war dafür allerdings nicht dienlich. Meist sahen wir nur ein großes Spektakel in viel zu vielen Räumen. Vor zwei Jahren dann zog die für die Vergabe zuständige Dachorganisation die Notbremse und änderte radikal die Vorgaben. Die Manifest 2012 darf nur noch auf ein Ausstellungsgebäude beschränkt sein und es entscheidet nur mehr ein Hauptkurator (Cuauhtemoc Medina, Mexiko) plus zwei ergänzenden Kuratoren (Katerina Gregos, Griechenland/Belgien; Dawn Ades, England). Erstmals sind sowohl historische Werke als auch bekannte Künstler zugelassen und vor allem ist kein politischer, sondern ein kulturgeschichtlicher Themenschwerpunkt gewählt: der Kohlebergbau bzw. die Industrialisierung.
Und das funktioniert großartig. Austragungsort der Manifest 2012 ist ein Zechengebäude in Genk, ein 65.000-Einwohner-Städtchen im Nordosten Belgiens. Bis 1900 war hier unbesiedelte Heidelandschaft, 1901 wurde Steinkohle entdeckt und bald entwickelte sich die Region zum industriellen Zentrum Belgiens. 1960 setzte der Strukturwandel ein, es folgte die Auto- und Stahlindustrie, die jetzt abgelöst wird von der großen Hoffnung namens Kreativ-Industrie. Die „C-Zeche“ in Genk ist bereits zum Kulturzentrum umfunktioniert. Jene in Waterschei-Genk wird zum Agenturen- und Büro-Areal und beherbergt jetzt vorher noch die Manifesta 2012.
Außen bereits renoviert, ist das Innere des ehemaligen Verwaltungsgebäudes noch eine Ruine. Farbreste blättern von den Wänden, die Mauern bröckeln, Löcher klaffen in den Böden – ein nicht ganz ungefährliches Ambiente, um mit „The Deep of the Modern“ den Bergbau als Auslöser gesellschaftlichen Wandels und als Grundlage der Moderne zu entfalten. Aber den drei Kuratoren ist es gelungen, sowohl Spektakel als auch Redundanz zu verhindern. Zwar liegen geschätzte 5 Tonnen Kohle auf den 25.000,- qm Ausstellungsfläche herum, aber wir erleben das schwarze Material jedes Mal anders, sehr roh in Richard Longs „Bolivian Coal Line“, als Anti-Monument in den drei Kohlehaufen von Marcel Broodthaers, als Provokation in Marcel Duchamps rekonstruierten „1200 Kohlesäcke“, die er 1938 in der Surrealismus-Ausstellung an die Decke hing – als größtmöglicher Kontrast zur sauberen Galerie. Hier in Genk fungiert Duchamps Installation als dunkler Eingangstunnel zur kunsthistorischen Abteilung, die uns mit 73 Werken die Industrialisierung im Spiegel der Kunst zeigt: komprimiert, vielseitig, faszinierend, wenn Luftverschmutzung impressionistisch umgedeutet wird, Bergarbeiter zum Motiv für Malerei werden oder Kohleminen als Hölle dargestellt sind.
Historische Aufarbeitung im Erdgeschoss, kunsthistorische Werke in der ersten Etage, Zeitgenössisches dann im zweiten Stock – diese Aufteilung der Manifest 2012 klingt zwar brav, funktioniert aber hervorragend. Das liegt einerseits an dem komplexen Thema, andererseits an der überschaubaren Menge und den überzeugenden Arbeiten. Immer wieder ergeben sich in den riesigen, offenen Räumen Blickachsen, wodurch die 39 zeitgenössischen Künstler mit den historischen Positionen verbunden bleiben. Was in den früheren Ausgaben der Manifesta kaum gelang, funktioniert hier perfekt: Die Kunstwerke bilden Brücken zwischen verschiedenen Geschichten, verbinden private Erinnerungen mit globalen Entwicklungen, betonen frühe und aktuelle Folgen der Industrialisierung. Was aber trägt die Kunst zu neuen Blicken auf die Kohle bei? Da sind etwa die Vitrinen von Ana Torfs, die das Grundmaterial der Kunst thematisieren: Farben. Hier heißen sie Sudan Schwarz, Prontosil oder Picric Acid. Es sind synthetisch erzeugte Farben, entstanden erstmals 1856 aus bis dahin als unbrauchbar geltendem Steinkohleabfall. Torfs erzählt damit aber auch eine andere Geschichte der Industrialisierung, denn diese chemischen Verbindungen dienten später auch als Explosionsstoff, als Medizin bis hin zu Cyklon B für Hitlers Gaskammern. Den umgekehrten Prozess führt Haifeng Ni mit den Nähmaschinen und Stoffresten vor, die zu einem riesigen, dekorativen Teil zusammengenäht sind – viel Produktion für ein sinnloses Produkt, eine „Para-Production“, so der Titel. Und den Schritt in die Gegenwart zeigt Paolo Woods mit seinen Fotografien, in denen er die sozialen Auswirkungen chinesisch finanzierter Industrialisierung in Afrika dokumentiert – Chinesen als die neuen Herren im Land. Kohle, das zeigt die Ausstellung eindrücklich, ist weit mehr als nur dunkel und dreckig. Kohle war und ist ein Kulturtreiber – und das auch für die Manifesta, die dank des alten Fossils ihre Aktualität zurückgewonnen hat.
9. Manifesta 2012 in Genk, Belgien, 2.Juni – 30. September 2012
veröffentlicht in: taz, 5.6.2012