Etwas ratlos folgen die lokalen Journalisten den Erklärungen zur Ausstellung. Abstrakte Malerei aus Österreich – das ist ein Angebot, das in Xian in der Provinz Shanxi noch exotischer klingt als in Shanghai oder Peking, wo die Schau zuvor Station gemacht hat. Österreich, ja, das kennt man in China, als Land der Musik. Aber Malerei? Noch dazu abstrakt?
Xian liegt knapp zwei Flugstunden von Peking entfernt und ist vor allem für die Terrakotta-Armee des Kaisers Qin Shi Huang Di berühmt, die wohl in den Jahren 220 bis 210 v. Chr. entstanden ist. Bisher wurden über 1000 dieser faszinierend detailliert und individuell ausgearbeiteten Soldaten ausgegraben, 8000 sollen es insgesamt sein. Überhaupt zählt Xian zu den ältesten Städten Chinas, war doch dort früher der Anfang – oder das Ende – der Seidenstraße. Aber von dieser zweitausendjährigen Geschichte der Stadt ist nichts zu sehen. Scheinbar alte Architektur ist fast ausnahmslos in den letzten Jahren neu gebaut worden. Auch in der „historischen Altstadt“, umgeben von einer geschlossenen Stadtmauer, sind die Bazar-Szenen meist nur vor die Betonhäuser vorgebaut.
Dieser auf Tourismus zielende, sorglose Umgang mit Original und Nachbau irritiert uns Westler enorm. Ursache dafür ist vielleicht gerade unser tief sitzender Glaube an Authentizität und Aura, aus dem heraus unsere Kunstgeschichte der Abstraktion wuchs; aus der Suche nach einer letztgültigen Wirklichkeit, einer Wahrheit der Formen und Farben.
Im Shanxi Provincial Art Museum prallen beide Geisteshaltungen aufeinander. Unbekümmert stehen die Werke chinesischer Kunst in runden Nischen auf dem Boden und reihen sich dicht gedrängt auf zwei Etagen – ohne jegliche Information und bei schlechter Beleuchtung – im Kreis aneinander. Oben in den Räumen der Österreicher dagegen gilt auf gut 3000 Quadratmetern westlicher Standard – bis hin zur Beleuchtung. Dafür haben die beiden Verantwortlichen der Ausstellung, Edelbert Köb, Direktor des Wiener Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig (MUMOK), und Yvonne Weiler, Witwe des Malers Max Weiler, gesorgt.
Die Unterschiede zwischen der chinesischen und der österreichischen Ausstellung könnten größer kaum sein: Idealisierte Kraniche und Vögel, Reiter und Bauern auf Traktoren, Berg- und Flusslandschaften treffen auf Bild gewordene Innenwelten. Der Rundgang beginnt mit Otto Zitkos gestischen Linienbildern, es folgen, Raum für Raum, Herbert Brandls verführerische, in Farben aufgelöste Landschaften; farbenfrohe, fast melodisch klingende Großformate von Gunther Damisch, die an Werner Heisenbergs Idee einer „Urmaterie“ denken lassen; Hubert Scheibls stark gestische, mit Kratzspuren überzogene Farbfeuerwerke; strenge, fast systematische Auseinandersetzungen mit der Malerei in den dunklen Bildern von Erwin Bohatsch und die düsteren, unglaublich tiefen Farbräume von Walter Vopava.
Die größte Irritation löst Bohatschs schwarzes Bild aus, das natürlich so ganz schwarz nicht ist, sondern bei genauer Betrachtung zahlreiche Formen und Farben offenbart. Bei der Eröffnung bildeten sich davor Trauben von Menschen. Die Farbe Schwarz dominiert auch die chinesische Parallelausstellung, vor allem in den Tuschezeichnungen und Kalligrafien, die in China als Malerei verstanden werden. Im Shanxi Art Museum sind sie nicht zuletzt deshalb zu hohen Ehren gekommen, weil der Direktor ein bekannter Kalligraf ist. Aber dieses Schwarz ist Linie, nicht Farbe – der Weg zur chinesischen Abstraktion scheint noch offen.
Dank der wirtschaftlichen Liberalisierung Chinas und dem Bestreben, Supermacht zu werden, ist der bildenden Kunst eine neue Bedeutung – und Freiheit – zugekommen. Eine Konsequenz daraus ist die Möglichkeit, Ausstellungen wie Neue abstrakte Malerei aus Österreich durch vier Städte touren zu lassen – wenngleich komplett finanziert vom österreichischen Staat. Die neue Freiheit spiegelt sich auch in der facettenreichen aktuellen chinesischen Kunstszene, die allerdings bislang vor allem im Ausland auftritt – etwa in der umfassenden Präsentation der grandiosen Privatsammlung des ehemaligen Schweizer Botschafters in Peking, Uli Sigg, im Kunstmuseum Bern.
Shanxi Provincial Art Museum, No. 14, Chang’an North Road, Xian, China. Anschließend im Guangdong Museum of Art, Guangzhou, und im MUMOK – Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien.
veröffentlicht in: www.artnet.de, 11. August 2005