Auguste Rodin und Wien, Belvedere

15. Okt. 2010 in Ausstellungen

Auguste Rodin, Bürger von Calais. Foto wikipedia, Courtesy Romainberth

Reiterstandbilder, Engel und Herrscherbüsten bevölkern schon seit Jahrhunderten den öffentlichen Raum. Sie stehen auf hohem Sockel und verlangen die eine, spezielle Ansicht: von vorne. Ende des 19. Jahrhunderts gelangt erstmals eine Skulptur in den Außenraum, die diese Prinzipien ignoriert: 1885 erhielt Auguste Rodin (1840-1917) den Auftrag, sechs Bürgern für ihre selbstlose Rettung der Stadt Calais im Hundertjährigen Krieg 1347 ein Denkmal zu setzen. Mit seinen „Bürger von Calais“ revolutionierte der französische Bildhauer die Idee des Denkmals: Seine Skulptur steht erstens auf einer kleinen Fußplatte, um den Passanten auf Augenhöhe zu begegnen, muss zweitens umschritten werden, um alle Figuren sehen zu können und zeigt vor allem drittens keine Heroen, sondern sechs dem Opfertod entgegengehende Männer, deren Hände in außergewöhnlicher Weise die Zweifel und inneren Konflikte dieses Moments ausdrücken.
Zusammen mit zwei weiteren seiner Hauptwerke waren die „Bürger von Calais“ als Gipsgruppe 1901 in der Secession zu sehen. Immer wieder stellte Rodin, der bereits zu seinen Lebzeiten ein Star war, in Wien aus. Seine Auftritte blieben nicht ohne Einfluss auf die österreichische Kunst – und genau dieser Aspekt steht jetzt im Zentrum der außergewöhnlichen und kunsthistorisch höchst interessanten Rodin-Ausstellung in der Orangerie des Belvedere. Kombiniert werden dafür Leihgaben und die acht Arbeiten aus der hauseigenen Sammlung mit Werken österreichischer Künstler, wodurch gleichermaßen überraschende und überzeugende Übereinstimmungen offensichtlich werden.
In all seinen Skulpturen suchte Rodin ein neues Menschenbild, denn er wollte vor allem Gefühle sichtbar machen. In den zahlreichen Ton- und Gipsentwürfen seiner Büsten schuf er immer wieder andere Varianten eines Gesichts. Arbeiteten seine Zeitgenossen hauptsächlich mit glatt polierten Oberflächen, formte Rodin seine Köpfe oft ohne Torso, platziert sie auf merkwürdig unvollendet erscheinende Partien. Diese Technik des „non-finito“ wurde im 15.Jahrhundert als hohe künstlerische Leistung in Zeichnungen praktiziert, aber erst Rodin wandte es als ausdruckstragendes Element für Skulpturen an. Besonders kennzeichnend sind aber diese zerklüfteten, expressiven Momente, mit denen er keine abbildhafte Ähnlichkeit, sondern die „Offenbarung eines Bewusstsein“ anstrebte.
Der für ihn so typische Wechsel zwischen weich modellierten und groben, fast aggressiven Partien gehört zu einem der Stilmittel, die Rodins Wiener Kollegen wie Anton Hanak oder Gustinus Ambrosi bald von ihm übernahmen. Einen unübersehbaren Einfluss, das ist die große Überraschung dieser Ausstellung, nahm Rodin auf die Maler Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele. „Der Körper ist ein Modell, geformt von Leidenschaften“ – dieses Motto von Rodin übersetzten sie in eine Malerei, die den Körper zum „Austragungsfeld von inneren Befindlichkeiten“ werden ließen, wie es der Kurator der Ausstellung, Stephan Koja, beschreibt – und dafür sogar einzelne Posen von Rodins Skulpturen identisch übernahmen. Auf Egon Schiele vor allem hatten die für Rodin so wichtigen Hände als zentrale Ausdrucksträger einen überwältigenden Eindruck, der heute fast als Schieles Markenzeichen gilt. Überzeugend auch inszeniert die Ausstellung die Verbindung zwischen Rodin und Fritz Wotruba: In seinem „Schreitender“ verdichtet Rodin das Motiv der Bewegung nur mehr im menschlichen Rumpf, verzichtet dafür auf den Kopf und die Arme. In einer Blickachse dazu steht Wotrubas „Stehender Torso“ von 1953/54, der die Reduktion auf das Wesentliche dann in die Abstraktion führte. Im Unterschied zu Rodin legte Wotruba seine Skulptur von Anfang an als geometrische Grundformen an, denn der viel später Geborenen suchte die Revolution nicht im Individuellen, sondern im Allgemeingültigen. In der Belvedere-Ausstellung können wir jetzt die Nähe in den beiden radikalen Wegen der Moderne sehen.

veröffentlicht in: Die Presse, 5.10.2010
Rodin und Wien, Unteres Belvedere und Orangerie, 1.10.2010-6.2.2011, täglich 10-18, Mi 10-21, 3., Rennweg 6