Betrachtungen zu Kunstausstellungen

10. Feb. 1991 in Ausstellungen

I.
Ist es nicht auffällig, welcher Beliebtheit sich heute Kunstausstellungen erfreuen? Daß die außerhalb der Museen organisierten Großausstellungen innerhalb des aktuellen Kunstbetriebes eine wichtige Rolle spielen, ist naheliegend. Aber auch gesellschaftspolitisch ist diese Form des Hochkultur-Entertainments gern begangenes Territorium. Noch nie zuvor in der (nicht allzu langen) Geschichte der Ausstellungen fanden derartig viele Großprojekte statt, flossen solche immensen Summen staatlicher und privater Gelder in den Kunstbetrieb und besuchten so viele Menschen die Präsentationen aktueller Kunstproduktion. Die Gründe hierfür sind verschiedenen: Kunstausstellungen nehmen als architektonische Räume (in dem die Ausstellungen stattfinden), als ideologische (im Sinne der Bildungsauftrags-Funktion) und als textuelle Räume (in Katalogen und Zeitschriften) Platz im gesellschaftlichen Leben, spiegeln kunstinterne Entwicklungen und politische Veränderungen wider. Ziel und Funktion dieser Einrichtung sind durch Machtinteressen definiert. Die Vermischung kommerzieller und kulturpolitischer bis hin zu außenpolitischen(1) Absichten findet sich dabei schon in den frühen Vorformen(2) der Ausstellung. Ein kurzer Exkurs in die Geschichte der Kunstausstellungen(3) möge die These der Ausstellung als institutionalisierter Rahmen zur Bedeutungsproduktion einleiten.

II.
Ausstellungsort und -flächen waren zu den Frühzeiten der ersten organisierten Kunstausstellungen noch keineswegs fest definiert, fanden teilweise unter freiem Himmel statt und konnten bisweilen auch durch die Macht staatlicher Ordnungshüter geregelt werden. So waren z.B. die Inhaber all jener entlang der Fronleichnam-Prozession liegenden Geschäfte laut Polizeianordnung verpflichtet, vor ihren Läden Vorhänge oder Teppiche zu spannen, auf denen dann Bilder befestigt wurden. Das war im 17. Jahrhundert in Paris, eine nach dem italienischen Vorbild der Festtagsausstellung eingerichtete freie Ausstellung.
Entgegen der damals schon üblichen Akademieausstellung konnte hier jeder sein Werk präsentieren, ohne vorher durch eine Kontroll-Kommission die Güte der Werke prüfen lassen zu müssen. Diese Prozessions-Ausstellung diente der Dekoration des christlichen Schauspiels, so wie schon in den frühesten Ausstellungsformen im Italien des 15. Jahrhunderts die Kunst in Schauzusammenhängen(4) präsentiert wurde. Kunstgegenstände wurden als ‚Dinge‘ betrachtet, die ihre Bedeutung über die Einbindung in einen größeren Zusammenhang – kirchlichen, festlichen oder merkantilen – erhielten. Im 17. Jahrhundert entwickelten sich die Ausstellungen zum Teil des gesellschaftlichen Lebens, zunächst eng gebunden an das Leihgeberwesen: Ganze Sammlungen wurden zur Ausschmückung von höfischen Festen ausgeliehen. Ausstellungen dienten allerdings nicht nur dem Adel als Rahmenbildung, sondern fanden auch im sich mehr und mehr behauptenden Bürgertum Verwendung. Ganz auf Kirche und Adel schielend, schmückte es die eigene Lebenssphäre mit Kunstgut aus, um den neuen, bürgerlichen Besitz- und Bildungsanspruch zu manifestieren.
Kunstausstellungen sind seit den frühesten Anfängen als Repräsentationsorgan kulturpolitischer Absichten eingesetzt worden. Zu Zeiten, als von einem Ausstellungsbetrieb, also einer organisierten und institutionalisierten Form der Kunstpräsentation, noch längst nicht die Rede sein konnte, stellte Kunst die sichtbare Verkörperung von theologischen Ordnungsprinzipien und Heilstatsachen(5) dar; später, nach der Abkoppelung der Künstler vom Stand des Handwerkers, wurden die Kunstausstellungen aus den bis dahin gültigen Zusammenhängen und merkantilen Zweckbestimmung herausgelöst und bekamen einen Eigenwert, eine Eigenmacht als öffentliches Ereignis. Dazu trug wesentlich die 1648 gegründete Academie Royale de Peinture et Sculpture bei, die 1663 die erste Ausstellung offiziell verfügte(6) und an der damit eingeleiteten Tradition rein akademischer Ausstellungen – mit Unterbrechungen – kaum verändert bis zur Französichen Revolution festhielt. Anschließend mußten die in ‚Salons'(7) umbenannten Präsentationen aktueller Kunstproduktion für alle Künstler geöffnet werden. Im Laufe des 18. Jahrhunderts tritt die repräsentative Funktion der Kunst hinter dem ästhetischen, das einzelne Werk als Selbstzweck setzenden Verständnis zurück. Diese freien, auf ein autonomes Kunstverständnis zusteuernden Ausstellungen werden dann im 20. Jahrhundert zu einem System von Bedeutungen, die einem Statement-Bündel gleichkommen.

III.
Kunstausstellungen präsentieren als eine Konventionsform des gesellschaftlichen Bildungsvergnügens bürgerliches Selbstverständnis. Mit dem aktuell und schnell reagierendem Ausstellungsleben wird allerdings nicht nur eine Bildungsfunktion erfüllt, sondern ebenso zur Stärkung des kulturpolitischen Prestige beigetragen, der Fremdenverkehr angekurbelt, Kunstmoden gesteuert und Kultur-Leitbilder gesetzt. Ausstellungen sind zugleich der Ort der Produktion von ‚guter‘ Kunst, d.h. also von Bewertungen, und von – gesellschaftlich nutzbaren – Wertsystemen (z.B. die Werte ‚Individualität‘ oder `Original‘, beides wirtschaftlich höchst effizient einsetzbar). Ort der Produktion von Kunstwerken ist das Atelier, Ort der Produktion von Beurteilungen sind Ausstellungen. Während die Bedingungen zur Kunstproduktion mit Welt-Wert-Systeme-einbeziehenden Begriffen wie ‚Eingebung‘, ‚Genie‘, ‚Talent‘ benannt werden, ist für die Beurteilungsproduktion nur ein einziges Kriterium notwendig: die Übereinstimmung mehrerer Kunstweltler. Die allererste Ausstellung eines Kunstwerkes findet gewöhnlich im Atelier statt, in einem privaten und konkurrenzfreien Raum. Die Produktionsstätte ist eine erste Probestätte, an der das Werk einer weitgehend kontrollierbaren(8) Audienz vorgeführt wird. ‚Konkurrenzfrei‘ ist dieser Ort übrigens erst seit der festen Einrichtung öffentlicher Ausstellungen. Noch im 16. und 17. Jahrhundert verkauften die Künstler direkt im Atelier, wo die Waren entweder innen oder außen auf einem kioskähnlichen Fensterbrett ausgelegt wurden. Die nächste Präsentation eines Werkes findet in einem damals noch völlig unbekannten Rahmen statt: der Galerie. Dem entspricht in etwa der frühere Markt, woraus sich in den Niederlanden der Kunsthandel(9) (das hieß Gütekontrolle und geregelte Verkaufsorte) entwickelte. Der Unterschied dieser merkantilen Darbeitungsweise zu den heutigen Galerien liegt in Art und Beschaffenheit der Orte, womit weitreichende Wirkungen einhergehen: Durch die Galerie wird ein erster Referenz-Rahmen angegeben, ein erster textueller Raum geschaffen und die Präsentationsform klar definierende Regeln vorgegeben (Farbe und Beschaffenheit der Wände, visuelle Zurückhaltung von Architektur und Beleuchtung). Regeln, die die Aufmerksamkeit des Betrachters ausschließlich auf die Schauobjekte bündeln sollen, was allerdings durch den textuellen Rahmen durchaus innerhalb manipulierender Vorgaben geschehen kann.

IV.
Dass Kunstausstellungen als Ort der Beurteilungs- und Bedeutungsproduktion bezeichnet werden, bedarf der Betonung des textuellen Raumes. Ausstellen heißt auswählen und hervorheben, womit Begriffe wie ‚Relevanz‘ und vor allem ‚Qualität‘ einhergehen. Eigenschaften, die den Werken einzig auf sprachlicher Ebene zugeordnet werden können. Übrigens Teilnahmebedingungen, die erst mit der Gründung der Akademien (sic!) die Ausstellungen zu beherrschen begonnen.
Die in Kunstausstellungen aufgebaute Vergleichssituation ist ebenso rein sprachlicher Natur. Diese Einbettung in linguistische Systeme findet seine Bekräftigung durch Kataloge, Zeitschriften und die obligatorischen Erläuterungs-Schilder: Die Nennung von Namen, Titel, Entstehungsjahr und Leihgeber ergänzen die Werke. Angaben, die in den Atelier-Präsentationen vielleicht ausgesprochen werden, aber noch keinerlei Bedeutung zu setzen imstande sind. In der Ausstellung dagegen sind es unverzichtbare Elemente des Systems. Die von Ausstellungen initiierten Diskurse – mit den ersten Akademieausstellungen setzt auch zugleich die Geschichte der Kunstkritik (als deren Forum) ein – können die Rezeption der Werke grundlegend verändern. Stellt sich in Ausstellungen schon per se die Frage der Verkörperung von Besitzverhältnissen (im Gegensatz zu der Situation in Museen, zu Sammlungen), so wird dies natürlich durch textuelle Informationen gelenkt. Ausstellungsobjekte werden zu Repräsentanten der Galerien; Einzelstücke einer Sammlung repräsentieren den Sammler; museale Leihgaben repräsentieren den (kulturellen und monitären) Reichtum einer Stadt (Gemeinde). Ausstellungstitel und -konzepte ziehen Bedeutungsstrukturen über die Werke, die im Prozeß der Betrachtung dann vom Sprachlichen auf das Visuelle übertragen werden: Charakterisierung durch Nationalitäten-Angabe werden ebenso zu Prägestempeln wie Festlegungen auf ‚zeitgenössisch‘, ‚jung‘ oder andere Sensationsangebote(10). Das Ordnungsgefüge ‚Ausstellung‘ kann Werte wie ‚deutsch‘ und ‚zeitgenössisch‘ über die Werke legen – und das Werk gerät zum Repräsentanten einer Nation und einer Generation. Schlagwortartig schwimmen die Begriffe durch die Wahrnehmung, sucht der Blick nach dem ‚deutschen‘ der ‚deutschen Kunst‘. Der Aktualitätswert ist dabei ähnlich relativ wie die Staatsangehörigkeit für die Betrachtung relevanzlos ist – diese Eigenschaften können einzig auf die Künstler zutreffen, die sich aber nicht ausgestellt finden.
Um es noch einmal deutlich zu machen: Funktion der Ausstellungen ist zunächst die Produktion einer textuellen Ebene, von der aus weitere Ziele angestrebt werden können(11). Ein textueller Rahmen übrigens, der durch den akademischen Diskurs der Schönen Künste vorgegeben ist. Ausstellungen sind Vermittlungsformen für bestimmte Werte und Eigenheiten, die durch den Ausstellungszusammenhang vorgegeben sind: Hier erhalten Objekte den Status von Kunst; hier werden die Werke als Produkt autonomer, von Arbeit und Konsum getrennter Form definiert, die durch den Wert der reinen visuellen Freude vom normalen Kommerz befreit sind. Ausstellungen bilden imaginäre Räume; Titel, Konzept und Katalog sind darin konstruierte Passagen, durch die Richtung und Geschwindigkeit der Wahrnehmung gelenkt wird. Innerhalb der linguistischen Systeme ist somit die Trennung vom Alltagsraum geschaffen, was auf visueller Ebene natürlich so effektiv nicht zu kontrollieren ist. Tatsachen wie die Anwesenheit von Wärtern, die Sicherung der Schaustücke gegen Diebstahl durch Kameras oder Alarmanlangen, Notausgänge, Alarmknöpfe, Feuerlöscher etc. sind sämtlich Elemente, die Alltagssituationen wie Raub, Panik, Katastrophen den Weg in die imaginären Räume der Ausstellung eröffnen, die die künstliche Trennung des Ausstellungsraumes (sowohl des tatsächlichen wie des imaginären) unterlaufen.

V.
Die Beliebtheit von Ausstellungen basiert sicher nicht zuletzt auf dieser Situation eines vom Alltag getrennten Bereichs. Auch wenn die Separierung nicht vollständig gelingen kann, wird hier doch eine Arbeit und Konsum ausschließende Welt inszeniert – und damit innerhalb dieser Räume (tatsächliche und imaginäre) auch wirklich. Reflexionen darüber, daß dies natürlich keineswegs wahr ist, können gezielt durch die sprachlichen ‚Passagen‘ ausgeschlossen werden. Sichtbar bleibt die Demonstration geistiger Freiheit, eines Anders-Denkens von Welt, was meist mit politischer Freiheit gleichgesetzt wird(12). ‚Freiheit‘ und Innovationstüchtigkeit (die gerade für staatlich geförderte, in Jahresrhythmen stattfindende Projekte gilt) sind dabei natürlich immer an das System des Kapitalismus gekoppelte – dieses repräsentierende? – Werte. So sind Ausstellungen auch über den reinen Ereignischarakter hinaus gesellschaftspolitisch relevant, da sich hier das Bürgertum (z.B. in seinem Reichtum, nicht nur an Geldwerten, sondern auch an freier Zeit) gespiegelt finden kann.
Mit der Einrichtung und Finanzierung von Ausstellungen setzen sich Regierungen kulturelle Monumente. Derartige Projekte vermögen Orten auf der Landkarte neue Bedeutungen zukommen lassen; Städte werden international wichtig (manchmal überhaupt erst sichtbar), Gemeinden können darüber bis hin zur Anhebung der Standortqualität für Betriebe profitieren. Die mit und in Ausstellungen produzierten Bedeutungen gehen über wirtschaftliche Belange, kulturelle Identifikationsangebote, sinnstiftende Werte (bzw. Begriffe) bis hin zu handfesten politischen Absichten(13).

(1) Jüngst zeigte die Düsseldorfer Kunsthalle im Rahmen der alljährlichen „Binationale“ „Israelische Kunst“ – ob einst auch palästinänsische Kunst präsentiert wird?
(2) Es waren einzig politische Gründe, die 1704 berücksichtigt wurden, als Clemens XI. zur Popularisierung der Türkensiege des Polenkönigs Johann Sobieski veranlaßt, daß dessen Witwe Portraits und Schlachtenbilder zur Ausstellung gibt, die der Papst dann auch durch seinen Besuch ehrt (Koch, S.111).
(3) Wenn im folgenden hier von ‚Ausstellungen‘ die Rede ist, wird damit immer die Form der Gruppenausstellung bezeichnet.
(4) Diese Schauzusammenhänge werden treffend als ‚festliche Gelegenheitsausstellungen‘ bezeichnet.
(5) vergl. Georg Friedrich Koch, Kunstausstellungen, Berlin 1967, S. 25.
(6) Diese erste Ausstellung fand aus Anlaß der Akademiker-Generalversammlung statt, zu der jeder Akademiekünstler ein Bild zum Schmücken des Festsaales beisteurn sollte. Schon bald danach fanden die Ausstellungen dann aber in einem öffentlichen Raum statt.
(7) 1737 fand die Akademieausstellung im Salon Carre statt,woher der bis ins 19. Jahrhundert gültige Gruppenausstellungs-Bezeichnung als „Salon“ stammt. In der englischen Sprache wird damit noch zudem die damals typische, dicht über- und nebeneinander arrangierte Hängung bezeichnet.
(8) ‚Kontrollierbar‘ wird in dem Sinne verstanden, daß hier der unmittelbare Kontakt zwischen Künstler und Betrachter eine zumindest minimale Auseinandersetzung mit dem Werk garantiert, was bei offiziellen Ausstellungen nicht mehr der Kontrolle des Produzenten unterliegt.
(9) Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts war ein Kunsthändler selbstverständlich selber Künstler. Eine Trennung zwischen Produktion und Verkauf der Werke wurde damals nicht gezogen.
(10) Angebote, über die sich ein Großteil der staatlich eingerichteten Ausstellungen wie Biennale, documenta etc., aber auch privat geförderte Projekte wie „Neue Kunst aus Hamburg“ u.ä. definieren.
(11) vergl. hierzu auch „Art After Modernism“, New Museum of Contemporary Art, New York 1984: Brian Wallis, Introduction; Mary Kelly, Re-Viewing Modernist Criticism; Martha Rosler, Lookers, Buyers, Dealers and Makers: Thoughts on Audience
(12) Dies konnte besonders anhand der Flut osteourpäischer Kunstpräsentationen im Westen beobachtet werden.
(13) Die Bedeutung der politisch motivierten und inszenierten Ausstellungen im Nationalsozialismus in Deutschland ist hier bestes Beispiel: Da ein politisches System keinerlei Kontrolle über die Produktion erlangen kann, wird die Präsentation benutzt. „Entartete Kunst“! Was nicht verhindert werden kann, wird umgedeutet. Durch Kontext-Kontrolle wird zwar nicht die Kunst, aber die Ausstellung als Instanz zum Propagandainstrument.

veröffentlicht: Katalog Paris, Mai 1991