Bohemia – ein weltweites Modell? Kunsthalle Prag

07. Jun. 2023 in Ausstellungen

Bill Owens, Altamont, 1969, (c) Bill Owens. Kunsthalle Prague

Im 19. Jahrhundert lebten Bohèmiens in Paris ein Leben in Armut aber voller Freiheiten. Warum wir Bohemia noch selbst suchten, zeigt uns jetzt eine Ausstellung in der Kunsthalle Prag. Denn dort wird die Geschichte dieser Idee von 1950 – 2000 von Paris bis Peking verfolgt.

Nach der Matura zogen Schulfreundinnen mit ihren Freunden in schicke Zweizimmerwohnungen. Mein Freund dagegen bewohnte eine ehemalige Schreinerei. Der große Raum diente ihm als ungeheiztes Atelier, vollgestellt mit Skulpturen. Eine kleine Ecke war in einen sehr rudimentär improvisierten Clo-, Koch- und Hochbettbereich umgewandelt. Nach dem Studium zog ich Mitte der 1980er Jahre zu Künstlerfreunden nach St. Pauli in Hamburg. Unten im Haus Jörg Immendorffs Bar La Paloma, darüber ein Bordell und oben unsere WG. Solche Wohnsituationen erschienen uns damals selbstverständlich. Erst jetzt, durch die Bohemia-Ausstellung in der Kunsthalle Prag, verstehe ich das dahinter stehende Lebensmodell: Wir lebten noch immer im Glauben an die Bohemia. War das Modell da nicht schon längst passé?

Ein Buch, eine Oper, ein Lebensgefühl

Der Ursprung des Begriffs Bohemia liegt im Tschechien, die Einwohner Böhmens hießen Bohemians. Da von dort viele Roma kamen, bezeichneten die Franzosen das Wandervolk als Bohemiens, erstmals nachgewiesen bereits im 15. Jahrhundert. Assoziiert wurde damit ein lasterhafter und verwerflicher Lebensstil. Um 1830 wandelt sich die negative Bedeutung und wird stattdessen mit Freiheit, Selbstbestimmung und Individualität assoziiert. Dazu trug nicht zuletzt der Roman „Scènes de la vie de bohème“ (damals übersetzt „Szenen des böhmischen Lebens“) 1851 von Henry Murger (1822-1861) bei, der die Pariser Bohème als „das Geschlecht der hartnäckigen Träumer, für die die Kunst ein Glaube geblieben ist“ beschreibt. Darauf basierend schrieb Puccini 1896 die Oper La Bohème über das Leben mittelloser, feierfröhlicher Künstler. Da hatte der unkonventionelle Lebensstil der Künstler-Bohèmiens im Pariser Montmatre-Viertel bereits zu einer Verklärung des Begriffs geführt und stand für einen selbstgewählten, demonstrativ unbürgerlichen Lebensstil, in dem Armut keine Schande war und Alkohol ein ständiger Begleiter. Statt bürgerlicher Tugenden und Zukunftsplanung galt es, tagtäglich ein exzessives, intensives Leben im Hier und Jetzt zu feiern.

Kunsthalle Prague, 2023. Foto SBV


Voraussetzung der Bohèmians war der Beginn eines offenen Kunstmarktes, der nicht auf Auftragsarbeiten basierte, sondern freie Schöpfungen zuließ. Das wiederum bedingte eine Kontrollverschiebung: Nicht die Auftraggeber, sondern die Künstler selbst bestimmten die Qualität. Mittelmaß war bürgerlich. Bohèmiens suchten Extreme. Jetzt steht dieses historische Lebenskonzept also plötzlich wieder im Raum, genauer: auf den hochwertig renovierten 900 Quadratmeter umfassenden zwei Etagen der Kunsthalle Praha. Es ist eine private Institution in einem ehemaligen Umspannwerk, gegründet von der Pudil Family Foudation, die Ende Februar 2021 mit der von Peter Weibel kuratierten „Kinetismus“-Ausstellung eröffnete. Über 100 Mitarbeiter umfasst das Team, rund 4 Millionen Euro stehen als Budget zur Verfügung, 2022 kamen 110.047 Besucher, wie Gründungsdirektorin Ivana Goossen erklärt.
Allein die Nennung solcher Tatsachen zeigt, dass die frühere Verklärung im Sinne der L´Art pour l´art heute einem anderen Blick gewichen ist. Hier also läuft „Bohemia. Die Geschichte einer Idee 1950-2000“ – hat sich dieser Lebensstil tatsächlich so lange gehalten? Ja, ist sich der schottische, in Kalifornien lebende Kurator Russell Ferguson sicher. Mit großteils dokumentarischen schwarz-weiß-Fotografien, die existentialistisch-dramatisch blickende Menschen in ärmlicher Umgebung, verwahrloste New Yorker Straßen oder schrille Performances von insgesamt 37 Künstlern zeigen, lässt er die Nachkriegs-Bohemia in den 1950er Jahren in Paris beginnen. Dort sieht er den Boden für die Rebellen von 1968. Weiter geht es mit der Beat-Generation in New York der 1950er Jahre, mit den Hippies in San Fransisco der 1960er Jahre, auch in London, in den 1970ern in New York, in Prag in den späten 1980ern und zuletzt in Peking in den 1990ern. Sogar Zagreb, Vancouver und Teheran, hier aber nur ein einziger Künstler, finden in der Zeitschiene Platz. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind gesellschaftliche Außenseiter – und lieben es.

Roy Arden, Fragents Series, Red Wine, Vancouver. Kunsthalle Prague

Was in der unteren Etage durchaus stringent erscheint, wird ab den 1980ern immer offener: Die ehemals dezidiert antibürgerliche Haltung weicht zunehmend Formen von Widerstand, von Homosexualität bis zu gezielten Provokationen: Tomislaw Gotovacs Nackt-Performance in Zagreb, Bijan Saffaris heimlich Heirat eines Mannes im prärevolutionären Iran, Roy Arderns Fotodokumentationen von Künstlern in Vancouver, Aktionen der Peking East Village-Szene. Dazwischen Nan Goldins großartige Fotodokumentationen des New Yorker Undergrounds und Helio Oiticicas Installation mit Jimi Hendrix-Musik.
Die Bohemia-Zeitschiene endet im Jahr 2000, als eine zunehmend digital homogenisierte Welt und gentrifizierte Metropolen keinen Platz mehr für Bohemiens bieten. Trotz der enorm unterschiedlichen Bohemia-Konzepte schafft es Russell Ferguson, einen romantisierenden Blick zu vermeiden oder gar ein vergangenes Lebenskonzept zu reaktivieren. Das wäre auch nicht möglich in einer Zeit, in der Gewinnsucht jegliche Idee von Verzicht verunmöglicht, in der sich Künstler als Unternehmer sehen und Armut nicht sexy, stattdessen Reichtum identitätsstiftend ist. Stattdessen zeigt uns Ferguson mit zwei Fotografien am Ende der Ausstellung sein Fazit: Gabriel Orozcos „Lime Game“ und Wolfgang Tilmanns Fotografie halten den Tag nach einer Party fest. Die Spielregeln haben sich verändert, das Fest ist vorbei. Ein Außerhalb der Gesellschaft gibt es nicht.
veröffentlicht in: Die Presse, 5.6.2023
Kunsthalle Praha, 23.März bis 16. Oktober 2023