Die Wohnungen liegen tief unter der Erde. Die Eingänge sind schmal wie ein Brunnenloch. Diese Beschreibung der Felsenhöhlen in Cappadoxia schrieb Xenophon 401 v. Chr. Es ist die erste schriftliche Erwähnung dieser bizarrsten Gegend der Erde mitten im türkischen Anatolien, in dem gerade ein einzigartiges Festival stattfand.
Erstmals 2015 organisiert, bringen die Veranstalter POZITIF mit dem CAPPADOXIA FESTIAL drei Tage lang Musik in die Natur. Vom Sonnenaufgang bis -untergang wechseln Konzerte mit Yogakursen und Atemübungen ab. Adam Hurst und Mercan Dede spielten um 6:30 im Red Valley vor der faszinierenden Kulisse der Felsenlandschaft und der aufsteigenden Heißluftballons, Rebecca Foon & Sirin Pancaraglu ein Cellokonzert bei Vollmond. Maksut Askar, Sebbie Kenyon, Semsa Denizsel tischten beim Chef´s Table und wunderbarem Picknick lokale Kulinarik auf, Levon Bagis und Nilhan Aras begleiteten mit lokalen Weinen; Wanderungen und Fahrradtouren konnten gebucht werden. Oder Richard Grossmans „Heilen durch Klang“-Kurs, Pranayama mit Life Musik oder Rebecca Foons Yogakurse.
Es ist ein grandioses, einzigartiges, tief eindrückliches Festival für die Sinne, wozu auch die Freiluftausstellung „Let´s cultivate our garden“ gehört: Einige der insgesamt 12 Künstler stellen auf dem Hauptplatz des kleinen Städtchen Uchisar aus, andere entlang eines Kunstpfads im Red Valley, wo Murat & Fuat Sahinler die Erde atmen lassen, Maider Lopez mit Tafeln auf die Farbenvielfalt hinweist, John Körmeling die Sonne beschwört.
Hera Büyuktasciyan erinnert an die lange Tradition des kappadokianischen Weinbaus und Tomas Saraceno experimentiert mit einen alternativen Antrieb für Heißluftballons.
Mit diesen Beiträgen plädiert Kuratorin Fulya Erdemci für einen „sanften Tourismus“, eine Hinwendung zur Natur – und die ist hier tief beeindruckend. Vermutlich vor 8000 Jahren gruben Menschen erstmals Höhlen in das weiche Tuffgestein der Felsen. Ab dem 1. Jahrhundert n.Chr. siedelten sich Christen an. Sie schufen Tausende von Höhlen und unterirdische Städte. In einem Tal in Göreme fand man eine riesige Klosteranlage mit Kirchen und Kapellen mit biblischen Wandmalereien, Grabstellen, Ess- und Wohnhöhlen.
Bis zum 11. Jahrhundert entstanden in der Gegend etwa 3000 Höhlenkirchen. Über fünfzig unterirdische Städte werden in Cappadoxia vermutet, man kennt bisher 36. Die größte in Derinkuya umfasst 2500 Quadratmeter auf acht Geschossen – und man schätzt, dass damit erst ein Viertel der ursprünglichen Stadt freigelegt ist.
Und überall stehen merkwürdige, phallusartige Felsen in der Landschaft. Rillenerosionen durch Wind und Regen verformen das weiche Gestein, lassen neue „Feenkamine“ entstehen, wie die Erdpyramiden hier heißen. Diese zauberhaften Felsen suchten sich Nilbar Güres und Ayse Erkmen aus.
Güres setzt in die Höhlenöffnung fabelhaft gestaltete Tiere: einen Löwen und eine Gazelle. In der schamanisch beeinflussten, animistisch geprägten Tradition der oft als „unislamisch“ angefeindeten Aleviten sitzen die beiden Feinde harmonisch zusammen – ein Wunschtraum, den Güres´ hier eindrucksvoll inszeniert.
In der Ferne dahinter sieht man einen riesigen, knallroten Plastikring, der wie ein Piercing einen Feenkamin schmückt – Ayse Erkmen hat damit ein starkes Zeichen der Aneignung dieser millionenalten Landschaft gesetzt.
Diese Beiträge weisen vielfältige Bezüge zu der Landschaft, der Kulturgeschichte und der Gesellschaft dieser Region auf. Mit den Beiträgen in Uchisar wird zudem die lokale Bevölkerung direkt eingebunden, in Christoph Schäfers „Stüdyo Mistranslation“, wo DJ Booty Carrell türkische Musik auflegt – ein Raum zum Tanzen, Diskutieren, Erzählen.
Asuncion Molinos Gordo zeigt in einem lokalen Restaurant ihre filmische Recherche über das Samen Gesetz No. 5553. Darin werden Standardsamen gesetzlich vorgeschrieben – eine Bedrohung für die Zukunft der kleinen Landwirtschaft.
Die geht hier auch im Zuge des zunehmenden Tourismus rapide zurück – eine umso problematischere Situation, als der Tourismus heuer um 70 Prozent eingebrochen ist, wie ein Porzellanhändler traurig erzählt. Früher kamen Mengen von Japanern, aber auch Türken in diese skurrile Landschaft. Heuer seien es 37 Prozent weniger Inländer, die schrumpfende Wirtschaft der Türkei und die Angst der internationalen Gäste vor Terrorismus treffen zusammen. „Aber das Cappadoxia Festival rettet uns,“ freut sich der Händler.
Zur ersten Ausgabe des Festival 2015 kamen 3000 Besucher, 2016 sind es schon mehr 6000 Gäste, die die 75 Veranstaltungen an 18 verschiedenen Orten besuchten. Vielleicht werden sie das Festival bald zweijährlich stattfinden lassen, überlegte Ahmet Ulug, aber eine Biennale soll es nicht werden. Denn hier steht nicht die Kunst, sondern das Zusammenspiel aller Künste mit der Natur im Zentrum. Unbedingt vormerken: Mai 2017. Buchen!
Let´s cultivate our garden, Cappadoxia, bis 12. Juni