Wie können Museen ihre oft sehr diversen Sammlungen heute aufstellen, ohne in akademischen Kategorien zu verharren? Diese Frage stellte sich Marc-Olivier Wahler bei seinem Amtsantritt als Direktor des Museum für Kunst und Geschichte in Genf (MAH) – und fand eine radikale Antwort: Letztes Jahr lud Wahler die österreichische Künstlerin Jakob Lena Knebl zur Neuaufstellung der Sammlung ein. Knebl antwortete mit einer farbintensiven, lautstark gestalteten Vermischung von Kunst und Design, mit Podesten aus Samt für Skulpturen, Plakaten von Tanzveranstaltungen vor historischen Figuren und einem Pharao in einem Schlafzimmer. Heuer ist Jean-Hubert Martin Gastkurator. Martin zeigte 1989 in seiner prophetischen Ausstellung „Magiciens de la terres“ erstmals Weltkunst auf Augenhöhe.
In Genf betitelt er seine Schau „Urteilen Sie selbst“ (Pas Besoin d´un Dessin)– und das ist durchaus programmatisch gemeint: Das Publikum soll sich den Werken ohne Vorwissen oder gar erläuternde Texte nähern. Dafür grub er tief in die rund 800.000 Objekte umfassenden Sammlungsbestände und entschied sich für gut 700 Exponate aus allen Sparten, Zeiten und Kontinenten. Präsentiert an Wänden, auf Staffeleien, in alten Vitrinen und Möbeln werden jetzt in 13 Kapiteln die für unsere Museen sonst üblichen Epochen, Stile und Kategorien ignoriert. Der Weg führt nicht von der Gotik zur Moderne, sondern beginnt mit Kreisen und Kreuzen. Und endet bei den Sinnen. Statt stilbildende Merkmale zu gruppieren, setzt Martin auf Analogien: Ähnlichkeiten und Differenzen. Im grandiosen ersten Saal trifft das christliche Symbol des Kreuzes auf Waffen und Weltkugeln, Geometrie auf Glauben – Antonio Sauras expressives Gemälde zu Globen bis zu Richard Longs Kreis aus Steinfragmenten.
Ein anderer Saal zeigt die „Allgegenwart geometrischer Motive“ in Malerei, Fahnen bis Stoffmustern und humorvollerweise dazu ein ausgestopftes Zebra. Erzählerisch wird es im Raum „Von der Liebe zum Hass“, wo in Bildern, Skulpturen und Objekten Liebe, Hochzeit, aber auch Mätressen und Gewalt wie in Felix Vallotons „Orpheus von Mänaden zerrissen“ zusammenkommen. Martin möchte den „Blick für das Wesentliche der Werke öffnen“, wie er im Gespräch sagt. Dafür treffen Meisterwerke auf Profanes, wodurch die Schau es tatsächlich schafft, dass wir auf jedes Detail zu achten beginnen. Wir entdecken die kleinen saufenden, pinkelnden und kackenden Figuren im Kapitel „Vom Lobpreis zur Vulgarität“, oder die facettenreichen Bilddarstellungen von lauter geköpften Männerhäuptern im letzten Saal „Vom Betrug zur Enthauptung“ – die hier im Saal der Waffensammlungen stehen.
Aber es sind nicht nur die Narrationen, sondern auch formale Analogien, die unsere Blicke öffnen: 50 Gefäße stehen frech nach Größe sortiert nebeneinander und 150 Objekte sind nach den Regenbogenfarben gruppiert. Manche Kombinationen spielen auf Redewendungen an, die von Besucher:innen entdeckt werden sollen. Der Weg zur Kunst, das legt diese außergewöhnliche Ausstellung nahe, führt durch Assoziationen zu einer konzentrierten Betrachtung, die nicht von großen Namen oder akademischen Kategorien abgelenkt wird.
Dass eine solche Schau im Museum stattfindet, wird nicht folgenlos bleiben. Es zeugt von einem Kunstverständnis, das die dominierenden, kategorischen Unterteilungen ablehnt und den Raum für andere Arten der Annäherung an die Kunst öffnet. Kunst wird rekontextualisiert. Werke werden nicht isoliert präsentiert, sondern in neuen Zusammenhängen. Wird sich das auch auf Kunstmessen auswirken, werden die üblichen Sparten und Sektionen nach Stilen und Medien vielleicht auch endlich erneuert? Finden Kunst, Design, Mode und Film zusammen? Bedingung dafür wäre höchste Qualität – was für eine spannende Herausforderung!
Pas Besoin D´Un Dessin, Musee d´art et d´histoire (MAH) Genf, 28.1.-16.6.2022
veröffentlicht in: Die Presse, 30.1.2022
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