Clegg & Guttmann wollen die Moderne erklären

10. Apr. 2006 in Ausstellungen

Clegg & Guttman, Wiener Secession 2006

Clegg & Guttmann, Wiener Secession 2006

Seit langem sind Clegg & Guttman endlich wieder in Wien zu sehen, mit einer großen Personale in der Wiener Secession. Wundersame Dinge stehen dort im Hauptraum: ein Hochstuhl, davor ein Plateau mit 16 Fahnenstangen, ein Schlagzeug, eine große Säule, die per Kurbel gedreht werden kann, eine Rampe, sogar eine Bronzeskulptur und ein Piano. Jeder Einheit ist wie auf dem Minigolfplatz eine Zahl zugeordnet. Acht Stationen haben Michael Clegg und Martin Guttmann hier zu einer reizvollen Ausstellung aufgebaut, die uns zum Mitmachen auffordern. Damit schließen Clegg & Guttmann an ihre erfolgreiche künstlerische Praxis der 1990er Jahre an, die didaktisch, ideologisch und spielerisch auftrat. Während allerdings die Handhabung etwa der Bibliotheken im öffentlichen Raum selbsterklärend war, wandeln die Besucher in der Secession ratlos zwischen den skulpturalen Ensembles herum. Außer Kurbeln am Piano und Trommeln am Schlagzeug ist uns unsere Rolle unklar. Aber dafür stehen Telefone mit Anleitungen bereit, was wir wie und vor allem warum tun sollen. Das Schlagzeug will bespielt werden und die Telefonstimme erläutert, dass diese Station – oder das Instrument? – „als Versuch angesehen werden kann, vorgegebene Reglements mit individuellen Aktivitäten zu versöhnen“. Hier kann nicht nur mitgemacht werden, hier soll wie in einem anthroposophischen Kindergarten allerhand gelernt werden.
wsStation 1, das „Gefangenen-Dilemma“: Je nach Schweigen oder Gestehen erhalten zwei Gefangene eine mindere oder höhere Strafe. Das Dilemma besteht in der individuell vernünftigsten (gestehen) und kollektiv vernünftigsten (schweigen) Entscheidung bzw. in der Interdependenz des Verhaltens der Beiden – ein beliebtes mathematisches Spiel, das hier mit Augenbinde, Spielfeld und Markierungsstangen „gespielt“ werden kann – verstehen wir jetzt die mathematischen Grundregeln? Station 2: Mit einer Kurbel erzeugt man Töne an dem Piano, die von den Anderen entweder getanzt oder irgendwie notiert werden sollen, eine Übung „to find the general laws of empirical data“. Station 3: Spielzeugtiere und Alltagsgegenstände sollen mit einer Bronzeskulptur verglichen werden – „Analyse und Synthese von Empfinden“ überschrieben. Station 4, der Hochstuhl und das 16-Personen-Spielfeld stehen in irgendeinem Zusammenhang mit dem Thema „Phasenübergang“. Station 5: „Synkopation mit Maschinenrhythmus“, kurz: Schlagzeug; allerdings sind keine Stöcke vorhanden. Station 6: Auf einer fünfkantigen Säule mit fünf einzeln verschiebbaren Elementen soll eine fortlaufende Zeichnung erstellt werden – nur leider ist keine Kreide zu finden, also drehen alle mal an der Säule. Station 7: „Feingefühl für Anfangsbedingungen“ heißt das vn Clegg & Guttmann vorgegebene Stichwort, zwei oder mehr Spieler sollen auf einer Art Rampe den „eingezeichneten Bahnen hypothetischer Billiardkugeln“ hüpfend folgen. Station 8: „Dreammachine“, eine eckige Säule, die durch Kurbelbewegung auf unseren geschlossenen Augen dank „elektro-magnetischer Reize zur Stimulierung spontaner Bildwelten“ führt. Und dann noch die „Collage“: drei Videoprojektionen von Wiener Stadtansichten, die allerdings nicht zu finden sind. Vielleicht reicht die Lichtstärke der Videoprojektoren nicht aus? Oder ist es ein bewusstes Spiel mit nichtwahrnehmbarer Wahrnehmung?
Haben wir jetzt irgendetwas über Ernst Mach und Ludwig Boltzmann gelernt? Denn so lautet der Titel dieser Ausstellung: „Mach vs Boltzmann“. Clegg & Guttmann nennen damit zwei Wiener Wissenschaftler, die um die Jahrhundertwende in einen Streit über die Atomtheorie gerieten. Damals bewies Ludwig Boltzmann seine Theorie, die „Wärme“ als eine statistische, berechenbare Eigenschaft erklärte, die aus den Bewegungen von Atomen resultiert. Mach dagegen lehnte die Atomtheorie strikt ab, weil Atome den Sinnen nicht direkt zugänglich sind. Für Mach waren Sinneserfahrungen das einzig Reale und es war die Aufgabe der Physik, Relationen zwischen ihnen herauszufinden, wodurch für ihn auch die Physiologie als Lehre der Sinnesorgane zur Physik gehörte. Boltzmanns „statistische“ Sicht versus Machs phänomenologischem Ansatz, der die individuelle Erfahrung zentral setzt und die Existenz einer realen Außenwelt anzweifelt?
Clegg & Guttmanns Ausstellung in der Wiener Secession ermöglicht keinen Zugang zu Mach und Boltzmann. Daran ändern auch die per Telefon abfragbaren, weiterführenden Informationen nichts. Der Katalog – eine massive Textsammlung, die vor allem den Esprit Martin Guttmanns atmet, von Nonsens bis Brillanz – zieht ohne Atempause zwar faszinierende, aber frei schwebende Verbindungslinien, etwa zwischen nicht-euklidischen Räumen und der Philosophie des Expressionismus, die erst einmal verstanden, dann überprüft und zuletzt erst als Erklärung herangezogen werden können. Er macht jedoch das Thema der Ausstellung deutlich: Die Mach-Boltzmann-Klammer dient Clegg & Guttmann als Rahmen für ihr Erklärungsmodell der gesamten kulturellen Entwicklung der Moderne. Michael Clegg und Martin Guttmann gehen hundert Jahre zurück, zu den Anfängen des Modernismus. Irgendetwas muss schief gelaufen sein, konstatieren sie. Die heute herrschenden Ideologien stellen niemanden zufrieden : „ Perhaps an act of self-reflection on the origins of the current state of affairs might bring us closer to an insight concerning our identity” und den Fragen, was Wirklichkeit ist, ob es eine vom Ich unabhängige Welt gibt und wie Wahrnehmung und Entscheidungen zusammenhängen.
Um die gesamte Tragweite von ihrer Überlegungen gleich vorab klarzustellen, formulieren Clegg & Guttmann folgenden anmaßenden Untertitel für ihr Projekt: „Spatio-temporal construction in eight parts or composition for early modernist cognitive exercise“. Es ist schade, dass dieses ästhetisch wie konzeptuell überzeugende Konzept einer spielerischen Übersetzung zentraler naturwissenschaftlicher Theorien des 20. Jahrhundert in einem derartigen Wust von übergewichtigen Begriffen versinkt. Statt didaktisch gelungener, ideologisch wertvoller Teilnahme ist nur ratloses Herumschlendern möglich – oder wir vergessen Mach und Boltzmann, Clegg & Guttmann und die Moderne und vergnügen uns ganz hedonistisch und lautstark mit Schlagzeug, Rampen und Piano.

veröffentlicht in: www.artnet.de, Die Moderne im Kindergarten, 10.4.2006

Wiener Secession, Friedrichstr. 12, 1010 Wien.

Bis 23. April 2006