Auf der 19. Contemporary Istanbul ist von der grassierenden Inflation nichts zu spüren. Zur Eröffnung hielt der Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu eine enthusiastische Rede – die Kunstmesse sieht er als „treibende Kraft“ der Stadtpolitik
Die Inflationsrate der Türkei beträgt 72 Prozent. Das klingt düster, nach leeren Geschäften und traurigen Menschen. Nicht so in Istanbul. Die Shops der zentralen Einkaufsstraße Istiklal Caddesi sind rappelvoll, Bars und Restaurants bestens besucht. Zwar sei die Situation für den Mittelstand sehr schwierig geworden, erzählt unsere Tourführerin Aysem, die Mieten seien teils um das Vierfache gestiegen, Lehrer könnten sich ihr Leben kaum noch leisten.
19. Contemporary Istanbul
Aber in der allgemeinen Stimmung ist davon nichts zu spüren – auch nicht auf der Kunstmesse. Gerade fand die 19. Ausgabe der Contemporary Istanbul (CI) mit gut 50 meist nationalen Galerien und einem kleinen Spanien-Lateinamerika-Fokus statt. Der Schwerpunkt liegt auf Malerei nationaler Künstler, gerne vielfarbig mit surrealen Bildmotiven. 700 Sammler seien eingeladen worden, erzählt Messeeigentümer Ali Güreli. Gemeinsam mit der lokalen Kunstszene feierten sie die Eröffnung in einem rauschenden Fest, die Damen gekleidet in herrlich glitzernde, enge Kleider mit waghalsigen Stöckelschuhen, die Herren mit den neuesten Modellen hochpreisiger Sneaker. Glaubt man den Galeristen, waren die Verkäufe zufriedenstellend – dabei hilft es, dass das Preisniveau hauptsächlich im fünfstelligen Bereich liegt. Die Preise wurden inflationsbedingt wohlweislich in Euro oder Dollar gehalten.
Kulturpolitik des Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu
Ein Grund für die überraschend entspannte Situation in Istanbul mag am Durchschnittsalter der türkischen Bevölkerung liegen, das mit 34 Jahren auffallend jung ist. Ein anderer Grund hängt sicher mit der Politik des seit 2019 amtierenden, im März wiedergewählten Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu zusammen. Er gehört der Oppositionspartei CHP an. Während Präsident Erdoğan auf den Bau von Synagogen setzt und gerne christliche Bauten in Moscheen umwandelt, erwirkt İmamoğlu eine schleichenden Säkularisierung durch Kunst und Kultur. Er beauftragt öffentliche Bibliotheken, läßt historische Bauten renovieren und zu Kulturzentren umbauen, fördert Kunsträume.
Kunst im öffentlichen Raum
Das jüngste Großprojekt liegt am Goldenen Horn, wo Investoren das Tesane genannte Gelände der 600 Jahre alten, osmanischen Werften in das „neue downtown von Istanbul“ verwandeln, wie es beworben wird. Hier findet auch die Kunstmesse statt, letztes Jahr noch in sparsam renovierten Backsteinbauten, jetzt bereits in mit Teppichen ausgelegten Sälen eines brandneuen Hotels. Der kleine, direkt am Meer gelegene CI-Skulpturengarten mit Werken von Anselm Reyle bis Ugo Rondinone gibt einen Ausblick auf die ehrgeizigen Pläne von CI-Messe-Inhaber Ali Güreli: „Istanbul braucht mehr Kunst im öffentlichen Raum!“ Und fügt gleich noch einen Appell an türkische Sammler an, ihre Sammlungen zugänglich zu machen.
Istanbul Modern bis Feshane
Das ist zwar nicht neu, kommt aber gerade richtig in Schwung. Seit zwanzig Jahren zeigt die Familie Eczacıbaşı ihre Schätze in ihrem Museum Istanbul Modern. Letztes Jahr eröffnete der neue Standort in Karaköy. Der von Renzo Piano entworfene Glasbau direkt am Bosperus präsentiert einen Schnelldurchgang durch die türkische Kunstgeschichte, flankiert von Wechselausstellungen. Heuer erstmals tritt Mustafa Taviloğlu, Gründer der Mudo-Geschäftskette, mit seinen in 52 Jahren gesammelten Werken in die Öffentlichkeit. Über 2000 Werke großteils türkischer Künstler sind verteilt auf sieben verschiedene Orte. Ein Hauptort sind die riesigen Hallen der ehemaligen Weberei Feshane, wo bis zum Verbot 1925 die typische, türkische Kopfbedeckung aus rotem Filz namens Fes produziert wurde. Jetzt ist es eines der vielen neuen Kunstzentren.
Alekos Fassianos im Türkischen Bad Cinili Hamam
Zu den ungewöhnlichsten Räumen gehört das historische Zeyrek Cinili Hamam. In den 1540er Jahren in Auftrag gegeben, durch Brände, Erdbeben und Antiquitätenhändler schwer beschädigt, begann die Restaurierung des türkischen Bads 2010. Letztes Jahr konnte dieses osmanische Baujuwels endlich fertiggestellt werden, für gut 50 Euro erhält man hier eine herrliche Luxusreinigung inklusiv Ölmassage. Es gehört der Tochter des CI-Messe-Besitzers, die voller Begeisterung über die vielen Funde während der Renovierung erzählt. Da sind etwa mysteriöse Graffitis detailgenauer Schiffskonstruktionen in unterirdischen Gewölbegängen. Dort finden jetzt auch Ausstellungen statt, die Graffiti sind eigens beleuchtet. Bis Jahresende werden hier Werke des griechischen Picassos, wie er genannt wird, Alekos Fassianos auf eigens entworfenen Stellwänden gezeigt. „Sailing to Byzantium“ nennt der Maler die Serie, in der er Vergangenheit und Gegenwart verbindet – das könnte als Motto über der aktuellen Kulturpolitik Istanbuls stehen.
Neue städtische Kulturinstitutionen
Denn es gilt nicht nur für die Privatinitiativen. 17 städtische Kulturinstitutionen wurden in den letzten Jahren eingerichtet, viele abseits der touristischen Hochburgen beispielsweise in einer ehemaligen Gasfabrik in Kadiköy oder im ehemaligen Erdöllager in Beykoz. Stolze 28 sollen noch folgen. Jüngst eröffnete Istanbul Sanat Müzesi, Istanbuls erstes öffentliches Kunstmuseum im Tersane-Quartier am Goldenen Horn. Zu den neun ausgestellten Privatsammlungen gehören auch Leihgaben des Oberbürgermeisters. Denn İmamoğlu ist selbst Sammler. So ließ er es sich auch nicht nehmen, auf der CI eine kurze Rede zu halten. „Die Kunstmesse ist ein wichtiges Event für Istanbul“, betonte er, es verändere „die Atmosphäre in der Stadt“. Istanbul soll „ein globales Zentrum für Kunst und Kultur werden“ und die Messe sei „die treibende Kraft“ dafür. Ein Lamentieren über die Inflation hat darin keinen Platz.
veröffentlicht in: Die Presse, 4.11.2024
Contemporary Istanbul, Tesane Istanbul, 24.-27.10.2024