Dóra Maurer im Interview: Raster, keine Quadrate

05. Aug. 2022 in Interview

Dora Maurer, Juli 2022. Foto SBV

Dora Maurer, Juli 2022. Foto SBV

Seit 2006 beauftragt der Wiener Städtische Versicherungsverein Künstler, die Konzernzentrale im Wiener Ringturm mit einer überdimensionalen Leinwand zu ummanteln. 4000 Quadratmeter groß ist das weithin sichtbare Bild, das aus 30 bedruckten Netzbahen bis zu 63 Meter Länge besteht. Heuer stammt der Entwurf von der Grand Dame der ungarischen Kunst Dóra Maurer. 1936 in Budapest geboren, erhielt sie 1967 ein Arbeitsstipendium in Wien und pendelt seither zwischen den beiden Städten. Mit ihren geometrischen Formen und strengen Kompositionen gehört sie zu den wichtigsten Künstler:innen Mitteleuropas.
Sabine B. Vogel: Für die Ummantelung des Ringturms haben Sie ein geometrisches Muster entworfen – wie kamen Sie zu diesem Bild?
Dóra Maurer: Da muss ich etwas weiter ausholen. Anfangs war ich ganz enthusiastisch über die Kunst der Alten Meister, Graphiken von Martin Schongauer oder Lukas Cranach dienten mir als Vorbilder – nicht von Albrecht Dürer, das war mir zu gekonnt. Lange Zeit konzentrierte ich mich auf Radierungen, manches erinnerte an surreale Bilder. Aber für mich war es ein vertiefter Realismus. Dann hatte ich genug davon. Ich wollte selbstständige Kompositionen schaffen. Ich entschied mich für ein Raster – der hielt die Motive zusammen, die miteinander spielen konnten. Meine Motive waren einfachste geometrische Formen. Keine Quadrate, die sind mir zu gleichgewichtig. Langweilig. Die Asymmetrie dagegen bringt Neuigkeiten, Interessantes und Unvorhergesehenes in die Komposition. Dann habe ich mich gefragt: Ist das noch Kunst? Aber bald war ich daran gewöhnt, und die Minimal Art war ja schon gang und gäbe. Also schämte ich mich nicht für meine Formen.
SBV: Was interessiert Sie an geometrischen Formen?

Dora Maurer, Wiener Städtische Versicherungsverein, 2022. Foto: Hertha Hurnaus

Dora Maurer, Wiener Städtische Versicherungsverein, 2022. Foto: Hertha Hurnaus

Dóra Maurer Das sind nicht einfach nur Formen und Verbindungen von Formen, sondern es sind kräftige Ausdrücke. Es ist wie eine Melodie, die man nicht in Worten beschreiben kann. Und auch nicht soll, sonst verschwindet das Ganze. Man kann es empfinden.
SBV: Kannten Sie in den 1960er Jahren die Konkrete Kunst, Kollegen wie Max Bill oder Richard Paul Lohse, die sich ja auch auf geometrische Formen konzentrierten?
Dóra Maurer: Ja sicher, aber Konkrete Kunst interessierte mich in dieser astreinen Form und dieser Art der Geometrie nicht. In der Konkreten Kunst waren die Formen eine Hilfe, aber nicht das Ziel. Ein Quadrat zu zerstückeln, um damit neue Formen zu schaffen, interessiert mich nicht – man weiß von Anfang an, was daraus entsteht.
SBV: Sie arbeiten ähnlich wie die Künstler der Konkreten Kunst mit Grundfarben?
Dóra Maurer: Ja, aber mit meinen Verschiebungen von Formen entstehen Überlappungen und damit neue Farben.
SBV: War Ihre Kunst in den 1960er Jahren in Ungarn nicht sehr ungewöhnlich? Dominierte damals nicht die figurative Malerei die Kunst?Dóra Maurer: In Ungarn gab es damals viel mehr konstruktive Kunst als in Österreich! Durch Josef Hoffmann und die anderen ist Geometrie in Österreich ganz anders aufgefasst worden als in Ungarn, wo die Geometrie einfacher, krasser und auch mehr als vereinfachte Umschreibung der gesehenen Formen aufgefasst wurde. Geometrie wurde in Ungarn sozusagen falsch verstanden, als Erweiterung des Kubismus. Ihr Hauptprotagonist war der Künstler, Dichter, Theoretiker, mit seiner Zeitschrift MA an internationalen Entwicklungen teilnehmende Lajos Kassák.
SBV: Was meinen Sie mit „falsch verstanden“?
Dóra Maurer: Geometrie wurde mit einer Art Verdichtung der Natur verbunden und so hat sie auch in den 1970er Jahren gewirkt – und wurde neben dem Sozialistischen Realismus geduldet. Das war etwas anderes als die Konkrete Kunst im Westen.
SBV: Gilt diese Beschreibung auch für Ihre Kunst?
Dóra Maurer: Meine Arbeit hat mit Dichtung auf eine andere Art zu tun – das Erlebte fügt formale und farbliche Elemente zur Arbeit hinzu, aber nicht wortwörtlich, auch nicht sowas Seelisches, sondern eher Rhythmisches.
SBV: Haben Sie Ihre abstrakt-geometrische Kunst als Opposition zum offiziellen Sozialistischen Realismus verstanden?
Dóra Maurer: Der hat mich nie interessiert. Ich habe gemacht, was ich wollte, was mich berührte. Manchmal wurden meine Werke darum nicht ausgestellt, am Ende meines Studiums erhielt ist kein Diplom. Aber das störte mich nicht.
SBV: Sie sind schon in den 1960ern häufiger nach Wien gereist. Hat die österreichische Kunst Sie beeinflusst?
Dóra Maurer: Nein, gar nicht, hier war die Kunst ja surrealistisch…
SBV: … meinen Sie die Phantastischen Realisten wie Arik Brauer oder Rudolf Hausner?
Dóra Maurer: Eher Fuchs, Lehmden, Hundertwasser – das hat mich nicht angezogen.
SBV: Sie hatten gerade eine Retrospektive in der Londoner Tate Modern und in der Kunsthalle Bielefeld – nimmt das Interesse an Ihrem Werk in den letzten Jahren zu?
Dóra Maurer: Ich stelle seit 1961 in Galerien und Museen aus. Nach der Retrospektive in der Tate Modern hat mich White Cube Gallery gefunden, gerade zeigt sie meine Arbeit in Palm Beach. Das ist recht verwirrend, da White Cube eine ganz andere Vorstellung von den Preisen meiner Arbeiten hat. Ich verkaufe meine Arbeiten ungern, ich brauche einige im Atelier, weil ich daraus noch Kräfte ziehen kann.
SBV: Sie möchten Ihre Werke gar nicht verkaufen?
Dóra Maurer: So habe ich es nicht gemeint, nein. Ich möchte, dass meine Arbeiten bei mir sind, ich finde Möglichkeiten zur weiteren Arbeit in ihnen.
SBV: Wie entstand Ihr Entwurf für den Wiener Ringturm?
Dóra Maurer: Ich habe Anfang der 1970er Jahre ein System mit rechteckigen farbigen Feldern entwickelt, die sich Schritt für Schritt verschieben und dadurch ständig wechselnde Form und Farbkonstellationen bilden. Im Kunstraum Buchberg habe ich 1983 mit dieser atmenden Konstruktion den ganzen Raum und auch den Fußboden bemalt. Daran knüpft „Miteinander“ für den Ringturm in Wien an.
SBV: Ist der Ringturm-Entwurf speziell für das Gebäude entworfen?
Dóra Maurer: Ich habe erst einmal Blödsinn ausprobiert: Was oben war, sollte nach unten und das Untere hochgehen. Das hätte ich neu anlegen müssen. Aber mein Galerist in Budapest, Attila Pőcze, riet mir davon ab. Früher habe ich zusammen mit meinem Grafiker Studenten Balázs Czeisel manche Buchumschläge entworfen, die wir nicht als Vorder- und Rückseite, sondern als Ringsherum-Konstruktion angelegt haben, als Kontinuum – so ist auch der Entwurf für den Ringturm, ohne Anfang und Ende. Es ist ein Detail aus einem vorhandenen Werk, in einem ganz kleinen Format, das dann auf dem Computer vergrößert wurde. In dieser Konstruktion entsteht ein Zentrum, aus der die Linien herausgehen und wieder zurück.
SBV: Worauf bezieht sich der Titel „Miteinander“, auf die Farben oder auf Menschen?
Dóra Maurer: Zuerst auf meine Kunstwerke, auf die Formationen und Farben. Die Menschen stehen im Hintergrund. „Miteinander“ meint Zusammenwirken. Aber auch Zusammenleben.

in durcheinandergepurzelter und arg gekürzter Fassung veröffentlicht in: Die Presse, 4.8.2022