Kennen Sie das Geymüllerschlössel? Diese prächtige, mit historischen Möbeln ausgestattete Biedermeiervilla oben beim Pötzleinsdorfer Schlosspark, die zum Museum für Angewandte Kunst (MAK) gehört? 1808 ursprünglich als privater Sommersitz gebaut, lange als Uhrenmuseum geführt, ist dieses Haus spätestens seit 2004 ein Geheimtipp. Denn im Haus vermischen sich immer wieder zeitgenössische Kunst ganz dezent mit herrlichen Biedermeiermöbeln. Heuer aber ist es anders. Denn Gast im Schlössel ist Erwin Wurm. Und seine Skulpturenserie „Dissolution“ ist alles andere als anschmiegsam. Im Gegenteil: In kleinen Gruppen arrangiert oder auch mal vereinzelt irritieren merkwürdig holprige Blöcke auf Podesten massiv das historische Ambiente. Von der Eingangshalle über die Bibliothek bis zum Musikzimmer stehen 20 dieser mit rosa- oder hellblaufarbener Glasur überzogenen Skulpturen. Es sind amorphe, abstrakte Formen aus Ton, denen Wurm modellierte Körperteile hinzufügt, Finger, Mund, Ohr, immer wieder auch einen gewölbten Bauch mit Nabel. Im opulenten Orientzimmer steht „Female“ mit einer einzelnen Brust. Und welches Teil ragt aus der Skulptur „Excitement“ im Schlafzimmer heraus? Es sei eine Vagina gewesen, erzählt Wurm, die er dann aber unkenntlich machte.
Wurm spricht von „Formfindungen“: Anders als seine bekannten Objekte mit Alltagsgegenständen wie Gurken und Semmeln, oder wie die deformierten Architekturen, entstehen die Blöcke völlig intuitiv. Trotzdem sei ihm aber „Realismus ein Anliegen“, die reine Abstraktion interessiere ihn nicht. Darum kommen die wiedererkennbaren Körperteile dazu. Aber es ist ein Realismus in Auflösung, und das erkennt man am klarsten bei der Farbe: die Glasur sei wie eine Haut – daher habe er auch Rosa gewählt, argumentiert Wurm seine Farbwahl. Manche Glasuren erinnern mit den vielen kleinen Luftblasen an Schaum, andere an zerfließendes Eis, das über die Form rinnt. Damit erhalten die zunächst so robust erscheinenden Blöcke beim genaueren Schauen etwas überraschend Momenthaftes. Diese faszinierende Ambivalenz wird noch verstärkt durch den Kontext. Eigentlich hätte er diese Werke lieber in einem weißen Raum gezeigt, gibt Wurm zu, „die brauchen den Biedermeier rundherum nicht“. Tatsächlich verstärken die lieblichen Sofastoffe, die verzierten Leuchter und die mit kunstvollen Intarsien geschmückten Möbel in den acht Räumen die Qualität dieser Werke: sie wirken hier aggressiv, ja, sogar frivol. Die Pastellfarben und fragmentierten Körperteile muten an wie eine Überspitzung der biedermeierlichen Heile-Welt-Ästhetik, die ja in einer Zeit entstand, die alles andere als idyllisch war. In den drei Jahrzehnten nach dem Wiener Kongress 1815-1845 wurden die bürgerlichen Ideale von Freiheit und Gleichheit durch eine Spitzelkultur, polizeiliche Willkür und politische Unterdrückung gestört. Das prägte sich interessant im Design aus, Glanz, Farbe und Struktur der Oberflächen von Möbeln wurden zum höchsten Wert, der durch nichts gestört werden sollte – daher der Verzicht auf Schmuckappliken, aber auch auf Griff- und Schlüssellochbeschläge. Das Furnier bestimmt die Möbel, es liegt wie ein kostbares Kleid darüber.
Anders als in der biedermeierlichen Ästhetik will Wurm mit seiner Haut nichts beschönigen oder gar glätten, sondern deutet eine Zerstörung an – ein Akt, der allerdings nur in unserer Wahrnehmung passiert. Und wieso frivol? Anders als die biedermeierlichen Schönheiten entstammen Wurms Formen keiner gebrochenen Idylle, sondern einer sorglosen Gestaltungsfreude. Seinen Sammlern sind diese Skulpturen seiner längst noch nicht abgeschlossenen Serie übrigens entschieden zu gewagt, kaum jemand interessiere sich dafür, verrät Wurm. Im Geymüllerschlössel können auch sie erkennen, dass gerade die Frivolität die Qualität ausmacht – und es hier sogar schafft, die Macht des historischen Ambiente in die Schranken zu weisen.
veröffentlicht in: Die Presse, 7.5.2021
Erwin Wurm, Dissolution, Geymüllerschlössel, Wien. 8.Mai-5. Dezember 2021