Esra Ersen in Linz

25. Dez. 2005 in Ausstellungen

Arbeiten 1998-2005 ist Esra Ersens erste große Einzelausstellung in einer Kunstinstitution und man fragt sich, wie das faszinierende Werk der jungen türkischen Künstlerin so lange nahezu unentdeckt bleiben konnte. Zwar nahm Esra Ersen an der Manifesta in Frankfurt oder an der 8. Istanbul Biennale teil, stellte im ZKM Karlsruhe und im Casino Luxembourg aus, doch verlangen ihre oft mehr als 20-minütigen Videos offenbar eine Aufmerksamkeit, die in solchen Gruppenausstellungen so leicht nicht aufzubringen war.
Jetzt, in ihrer Einzelausstellung im OK Centrum für Gegenwartskunst in Linz, ist die Vielschichtigkeit und vor allem die beeindruckende Intensität ihrer Arbeiten deutlich sichtbar. Gezeigt werden 9 Video- und Rauminstallationen sowie Dokumentationen von Projekten im öffentlichen Raum und in Fotoarbeiten. Ersens Themen sind kulturelle Identität, Migration, Integration – angesagte Themen der aktuellen Kunst. Aber Esra Ersen schwimmt nicht mit im Täter-Opfer-Mainstream der Diskurskunst, sondern konzentriert sich auf einzelne Menschen. Nahezu ohne Schwenk auf den Umraum sprechen sie vor der Kamera und in die Kamera. So ziehen uns die Videoarbeiten suggstiv in Dialoge hinein, die getragen sind von einer sehr offenen Neugierde.
Ersen, 1970 in Ankara geboren, filmte mehrere Dokumentationen rund um Istanbul, die in Linz in der kongenialen Ausstellungsarchitektur von Peter Sommerauer gebündelt sind. Der Linzer entwarf eine Holzkonstruktion, die verschieden große Boxen ineinander verschachtelt – intime Situationen, in denen wir etwa in Hello Where is it? (2000) mehreren Gesprächen während einer Autofahrt wie Mitfahrer auf der Rückbank zuhören. Es sind Fahrten über Istanbuls Bosporus-Brücke, Verbindung zwischen Asien und Euroa und überzeugendes Sinnbild für Ersens Thematik rund um Kultur, Kommunikation und Differenzen. So verliert sich ein Paar in Beziehungskonflikten, zwei Männer dagegen erzählen sich Kuriositäten über die Stadt, etwa von dem Schwimmstadion, dass im Erdbebengebiet gebaut werden soll.
Für den sehr bewegenden Film Brothers & Sisters (23:35 Min., 2003) lebte Esra Ersen sechs Monate in der afrikanischstämmigen Gemeinschaft Istanbuls. Im Video porträtiert Ersen die Einzelsituationen Jener, die auf ihrem Weg nach Europa hier landeten. Sie filmt kleine Jungen beim Gespräch über die aussichtslose Arbeitssituation ihrer Väter, eine Begräbnisparty und lässt ausführlich Erik zu Wort kommen, der beeindruckend treffend von der Diskriminierung seiner Landsleute durch die Türken berichtet. Sein Fazit: „Wenn die Türkei zu Europa gehören will, muss sie uns akzeptieren!“
Einen tiefen Eindruck hinterlässt auch This is Disney World (20:90 Min., 2000), Ersens Dokumentation über Straßenkinder in Istanbul. Mit Zwischentiteln wie „Gewalt“, „Schicksal“ oder „wenn ich groß bin“ unterteilt, sprechen die Kinder direkt mit der Kamera, dabei immer wieder an ihren mit Lösungsmitteln getränkten Lappen schnüffelnd. Dann irgendwann antworten sie auf die Frage, was sie einmal werden wollen: Arzt, Lehrer, Friseur, aber auch Mafia. Diese Sequenz ist so intensiv, dass man antworten möchte, eingreifen, helfen.
Esra Ersen taucht aber nicht nur in türkische Situationen ein. In Stockholm lässt sie Mitglieder einer moslemischen Gemeinschaft in die Kamera sprechen, filmt Immigranten beim schwedischen Sprachunterricht oder spricht mit zwei jungen Immigrantinnen über die Besonderheiten einer japanischen Frauenzeitschrift – Which One You Chose (17:39 Min., 2003) wird so zu einer fröhlichen Einführung in die beiden japanischen Rollenbilder des „cool girl“ und des „sweet girl“. Für das OK Centrum zog Ersen einer Schulklasse türkische Schuluniformen an, filmte die Kinder und ließ abschließend ihre Tagebucheintragungen rund um die Uniform auf die Kleidungsstücke nähen. Manche sind mehr und mehr begeistert, andere schwitzen arg und ärgern sich über den engen Kragen.
Esra Ersens überzeugende Qualität liegt darin, dass sie Ideologien, politische Entscheidungen und biografische Erfahrungen weder moralisch noch didaktisch kommentiert. Diese Ebene steckt in den Bildern, in den Brüchen, in den harten Übergängen und vor allem in den Monologen. Was wir in Ersens Filmen sehen, sind Menschen in schwierigen Situationen, die nicht frustriert, sondern kämpferisch, bisweilen sogar fröhlich ihren Platz im Leben suchen. Damit ist endlich die Hierarchie aus der aktuellen Migrations/Identitäts-Thematik herausgenommen, denn in dieser Suche unterscheiden sich die Menschen keineswegs von uns.

veröffentlicht in: www.artnet.de,

20.11.-15. Januar 2006 im OK Centrum für Gegenwartskunst, Dametzstr. 30, 4020 Linz. Ab April 2006 Ausstellung zur Wiedereröffnung des Frankfurter Kunstverein.