Extra-Filmprogramm documenta12 (2007)

27. Mrz. 2007 in Ausstellungen

Sogar ein eigenes Filmprogramm ist für die documenta12 (2007) vorgesehen. Kurator ist Alexander Horwarth, seit 2002 Direktor des Filmmuseum Wien. Es soll als integraler Bestandteil extern in dem Kasseler Gloria Kino laufen, ein Kinopalast, der 1955 eröffnete, also dem Gründungsjahr der Documenta. Mit der prächtigen Architektur erzählt das Kino von einem Filmbegriff, der der Präsentation von Laufbildern in Blackboxen, wie es in Kunstausstellungen üblich ist, die historisch erworbene Präsentationsform entgegensetzen kann. „Dieses Normal-Fall-Kino sagt deutlich, dass Film einen eigenen Ausstellungsraum besitzt,“ präzisiert Horwath.

50 Abende stellt Horwath zusammen, von 1952 bis heute. Die Programme umfassen rund 90 einzelne Arbeiten und werden zweimal vorgeführt. Jeder Abend besteht entweder aus einem langen oder 2, 4 oder 6 kürzeren Filmen, die nicht chronologisch geordnet, sondern im Wechsel zwischen historischen und zeitgenössischen Arbeiten zusammengestellt sind. Warum aber 1952 beginnend? „Um 1950 beginnt überhaupt erst die Wahrnehmung des nicht-westlichen Kinos, zunächst mit japanischen Filmen, dann weltweit und damit auch eine internationale Filmgeschichte mit offenem Blick,“ erklärt Horwath. Welche Filme aber werden wir im Rahmen der documenta12 sehen? Horwaths Antwort: „Normalfilme“. Was das ist, erklärt er in einem Gespräch im Büro des Wiener Filmmuseums:
„´Normalfilm´ ist natürlich ein polemischer Begriff. Der geht zurück auf die Formulierung des Kritikers Bert Rebhandl vom ´Normalfall des Kinos´, was er damals in einer Besprechung der 10. Documenta 1997 unter Catherine David schrieb. Mit Normalfall meinte er ein Kino, das überhaupt nicht im Kunstbetrieb vorkommt. Ich spreche von ´Normalfilm´ in ähnlichem Sinn, nämlich ein Kino, das die Kunstwelt selten im Auge hat, wenn hier Film- oder Laufbilder aufgegriffen werden.“

SBV: Der „Normalfilm“ ist also nicht ´normal´ im Sinne von Hollywood, sondern von Programm-Kinos?

Alexander Horwarth: Genau! Ich weigere mich, den Mainstream-Film und die allgemeine Vorstellung der Bevölkerung von Kino gleich zu setzen mit ´normal´ und genauso, umgekehrt, einen minoritären Begriff aufgrund von Avantgarde-Filme für ´normal´ zu erklären. Mein Vorschlag ist es, einen ganzheitlichen Begriff von Kino zu setzen: den „Normalfall des Kinos“ als eine Artikulationspraxis zu sehen, in der eine Kontinuität, ein Zusammenhang besteht zwischen Ken Jacobs 400 Minuten „Star Spangled to Death“ und Peter Kubelkas 1 Minute „Schwechater“ und Marie Menkens stummen 6 Minuten „Lights“, genauso wie zwischen Johan van der Keukens, Robert Kramers und Fred Wisemans umfassenden, dokumentarisch-essayistischen Ansätzen einerseits und populären Filmen von George A. Romero über Zombies oder Hitchcocks „Vertigo“ andererseits – statt die Kompartmentalisierung mitzumachen, die in der Filmkultur und Kultur ohnehin ständig passiert.

SBV: Warum vermeiden Sie die Begriffe Experimental- oder Avantgardefilm?

Alexander Horwarth: Diese Begriffe kommen vielleicht in meinem Text in dem Katalogheft vor, das zum Filmprogramm erscheint. Aber ich möchte nicht sagen, dass nur der experimentelle Film auf der documenta12 seinen Platz hat, weil der zur Kunst gehört. So ist das tendentiell in den Documenta-Ausstellungen Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre gemacht worden. Jetzt kommen genauso viele Regisseure im Programm vor, die nicht für den Kunstbetrieb, sondern für das Kino arbeiten, oder auch in Kooperation mit TV-Sendern wie Wiseman oder Rithy Panh. Darum spreche ich ja von ´Normalfilm´, im Sinne eines Kontinuums. Das ist vielleicht etwas pädagogisch gedacht, aber ich hoffe, dass diese Zusammenstellung die eingefrästen Vorstellungen von ´Normalfilm´, wie sie bei verschiedenen Teilen des Publikums existiert,  ein bisschen öffnen kann, oder elektrisch aufladen kann oder explosionsartig erweitern kann!

SBV: Die genannten Regisseure sind hauptsächlich aus den USA – liegt hier ein Schwerpunkt?

Alexander Horwarth: Keineswegs, es kommen in der Auswahl genauso Werke aus Lateinamerika vor, z.B. der brasilianische Film „Porto das caixas“ von Paulo César Saraceni, das ist eine Verarbeitung des Themas von „The Postman Always Rings Twice“. Auch zwei argentinische Filme, viele asiatische Filme wie z.B. der indonesische „Opera Jawa“ von Garin Nugroho – auch indische Filme von 1957 und 1960 und natürlich österreichische und deutsche Künstler, darunter Valie Export, Kurt Kren, Ernst Schmidt jr., Harun Farocki, Romuald Karmakar oder Peter Nestler – ein viel zu wenig bekannter Regisseur, der Ende der 60er Jahre nach Schweden emigrierte und sehr schöne, auch politisch sehr scharfe Dokumentarfilme gemacht hat.

Es gibt Filme in der Auswahl für die documenta12, die wesentliche Beispiele dessen sind, was man den ´Kanon des Kinos´ nennen kann – „Vertigo“ oder Peter Kubelka, Antonionis „Professione: Reporter“ oder Rossellinis „Viaggio in Italia“ –, aber dazu noch weitaus mehr Filme, die eher am Rande stehen, international kaum bekannt sind wie „Reisender Krieger“ von Christian Schocher, eine 1981 gedrehte, mehr als dreistündige Verfilmung der Odyssee, zwischen dokumentarischem Ansatz und einer Fiktion: die Geschichte eines Vertreter namens Krieger, der durch die Schweiz fährt und sein Parfum „Blue Eyes“ in Friseursalons verkaufen will, quasi-dokumentarisch gefilmt. Oder auch der Kanadier John Cook, der in den 70er Jahren in Wien lebte und Filme zwischen Fiktion und Tagebuch drehte. Solche Arbeiten sollen mit den kanonischen Filmen in Berührung kommen und so der Standardgeschichte über die zweite Hälfte des Kinos – also das Moderne Kino, beginnend mit einem zentralen ‚Umspring’-Film wie „Viaggio in Italia“ – etwas Neues, Anderes zur Seite stellen.

Wenn man es im Detail diskutieren will, dann wäre Marie Menken so ein Fall, wo ich nicht die kanonische Position zur US-Nachkriegsavantgarde genommen habe, also z.B. Maya Deren, sondern die um vieles Unbekanntere, Marie Menken, die in den 50er/60er Jahren mit ihrer kleinen Bolex-Kamera ein ganz scheues, vibrierendes Kino gemacht hat, das viele Leute mit ‚Amateurfilm’ in Verbindung bringen, weil es stumme und private Filme mit der Handkamera sind – das sind Filme, die es noch zu entdecken gilt und die in Kassel während der documenta12 zu sehen sein werden.

SBV: Vielen Dank für das Gespräch!

veröffentlicht in: www.artnet.de, 30.3.2007