Gelitin im Ferdinandeum.
Mengen von Menschen stehen vor der Tür. Ein DJ beschallt den Platz, sein Pult steht gleich neben dem Eingang des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum. Auch innen drängeln sich die Menschen. Hier sorgt der Musiker Philipp Quehenberger für den Sound. Manche tanzen, andere pantschen mit Wasser und Ton. Drei Tage lang tobt sich hier die vierköpfige Künstlergruppe Gelitin plus weiteren elf Freunden aus, manchmal mischen sich Besucher:innen dazu. In der temporär eingerichteten Tonwerkstatt „Alle für alle“ produzieren sie Tonfliesen. Nur die Grundform ist festgelegt, es herrscht wilde Kreativität. Viele entscheiden sich für ein Gesicht, meistens sehr frei interpretiert.
Aber darum geht es hier gar nicht. Die Tonwerkstatt ist nur ein Teil einer Ausstellung, die nicht als Personale gelten kann. Denn eingeladen wurde Gelitin zu einer Auseinandersetzung mit der Museumssammlung – zu einer Ausstellung, die das geballte Dilemma zeigt, in dem die Museen heute stecken. In Museen werden gesellschaftliche Werte institutionalisiert. Daher wird seit einigen Jahren darüber diskutiert, wie Museen als Akteure der Geschichtspolitik handeln, wie Sammlungen angesichts gesellschaftlicher Veränderungen von Postkolonialismus bis zu Gendervielfalt präsentiert werden können. Eine beliebte Antwort bzw. Ausweg: Museen beauftragen Künstler:innen. 2017 gestaltete Jakob Lena Knebl die Sammlung im MUMOK als “atmosphärische Begegnungsräume“ und stellte mit farbigen Wänden in Schaufenster-ähnlichen Raumnischen diverse Objekte zusammen. Heuer im Februar wurde sie vom Museum für Kunst & Geschichte in Genf eingeladen, wo sie mit Samttapeten, Polstermöbeln und Modeobjekten die Grenze zwischen freier und angewandter Kunst austariert.
Auch das Innsbrucker Ferdinandeum geht diesen Weg. Sammlungsleiter Florian Waldvogel entschied sich für Gelitin – vier Künstler, die voraussehbar keinerlei Interesse an musealen Sammlungsbeständen haben. Ali Janka, Wolfgang Gantner, Tobias Urban und Florian Reither sind eher bekannt für ihre lustvollen, gerne nackt ausgeführten Performances und ausufernden Installationen. Sie ließen sich trotzdem durch die verschiedenen Häuser der Tiroler Landesmuseen führen und entschieden sich, an drei Standorten Filme zu drehen: Vor der Panoramadarstellung der Schlacht am Bergisel lassen sie einen langen, als Wurm verkleideten Menschen kriechen – sie wollten der Schlacht etwas entgegensetzen, erklärt Tobias Urban im Gespräch. In der Hofkirche tanzen leicht gekleidete Frauen neben den „Schwarzen Mandern“. Ganz besonders waren sie von der Führung durch das Tiroler Landesmuseum in Hall angetan, wo ihnen kopulierende Tiere gezeigt wurden. „Das können wir auch“, sei ihre Reaktion gewesen, erzählt Tobias Urban im Gespräch – und so entstand ihr Video mit ausgestopfter Bergziege, Bär und Wildschwein, Dildos und nackten Männern. „Manisches mit Video“ nennt er es.
Die Videos, Skulpturen, ein eingebauter Balkon, ein Riesensofa, ein 20 Meter hoher Turm, der an einen Strommasten erinnert – in Anspielung an die Feuernacht im Juni 1961, als der „Befreiungsauschuss Südtirol“ in Südtirol 42 Strommasten sprengte, wie Urban erklärt – wo ist der inhaltliche Zusammenhang? Sämtliche Einbauten sind aus vorgefundenen Materialien gebaut, manche Wände von der vorherigen Ausstellung „Defregger. Mythos – Missbrauch – Moderne“ übernommen und leicht bis brachial überarbeitet. Gelitin nennen ihren Umgang „fröhlich“ und bezeichnen die Videos als „filmische Interpretationen“. Mit der dreitätigen Performance wollen sie „eine andere Stimmung“ erzeugen. Liegt in solchen spaßgetriebenen Beiträgen ein Ausweg aus der Museumskrise, eine Antwort auf die Forderung nach einer anderen Geschichts- und Erinnerungskultur, nach einer offenen Vermittlungsarbeit? Nach Sammlungspräsentationen, die zeitgemäße Kontexte herstellen? Das alles wäre wohl die Aufgabe von Kustoden. Gelitin steuert nur die Kunst bei – die im Wandtext pseudophilosophisch überhöht wird: Die Ausstellung wird als „Reisebüro des Realen“ bezeichnet, in dem „mit dem real Verdrängten“ gehandelt werde, was mit Verweisen auf Jacques Lacan und Michel Foucault bekräftigt wird. Die Installationen werden darin als „Gegenräume“ bezeichnet, als ´realer Raum jenseits aller Orte´ – worauf eine absurde Aufzählung folgt: „Das Museum, das Bordell, Gefängnisse oder Gelitin“. Wo endet die Ironie, wo beginnt der Nonsens? Liegt darin die Zukunft der Museen?
Veröffentlicht in: Die Presse, 14.7.2021
Gelitin, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, 1.7.-26.10.2021