Gut 3 Millionen Schiffwracks stehen in den Häfen rund um den Globus, erzählt Marion von Osten, Künstlerin der Göteborg Biennale. Zwei davon liegen in Göteborg vor Anker. Die Künstlerin befragte Hafenmeister, Schiffseigentümer und Seeleute zu den Gründen, warum ausgerechnet in einem Hafen Schiffe versinken. Die Antworten waren vielfältig: Ignoranz, Korruption, Bankrott, Schengen. Die beiden Wracks in Göteborg waren einst Restaurants, das bombastische Drachenschiff sogar ein offizielles Geschenk von Shanghai. Aber beide gingen in Konkurs. Jetzt ist niemand mehr zuständig, die Entsorgung teuer – der einfachste Weg ist das Ignorieren bis zum Untergang.
Radikalität?
Von Osten entschied, lediglich Tafeln mit den aufgelisteten Mutmaßungen wie Mahnungen überall im Hafen aufzustellen. Sie sind Teil einer der vier Ausstellungen der heurigen Göteborg Biennale (GIBCA).
Oberthema der 45 Beiträge ist „Play!“, ergänzt durch den Zusatz der „Rückeroberung von radikalen Vorstellungen“. In einer Zeit, in der ´Radikalität´ mehr mit Terrorismus als mit künstlerischen Grenzerfahrungen verbunden wird, ist das ein spannendes Thema. Ist ´Radikalität´ überhaupt noch ein positiver Wert? Ist überhaupt noch Raum für Radikalität, wenn eine allgemeine Unsicherheit zur Grundstimmung westlicher Gesellschaften wird? Und kann die Kunst überhaupt noch Bilder schaffen, die drastischer sind als die Wirklichkeit selbst?
Um es gleich vorweg zu nehmen: Eine Radikalität wie es die Kunst der Moderne praktizierte, indem formale und inhaltliche Grenzen überschritten wurden, ist heute nicht mehr möglich, zu weit ist der Kunstbegriff heute gefasst, zu offen ist der gesellschaftliche Rahmen, zu eng der politische. Aber etwas anderes vermag die heutige Kunst, und das wird in Göteborg deutlich: Hier geschieht eine Verlangsamung unserer Wahrnehmung, die das Übersehen verhindert. Drastischer als die langsam sinkenden Schiffe geht es kaum, aber die Kunst kann einen Diskurs dazu anregen, das Thema umspielen, die Vorstellungen dazu hervorkitzeln.
Art & Crime
Von Ostens Beitrag gehört zum Biennale-Unterthema „Art & Crime“ (kuratiert von Joanna Warsza).
Dabei geht es aber nicht um Verbrechen, sondern um die Macht der Kunst, den Status Quo der Gesellschaft zu irritieren: „Jedes Kunstwerk ist ein nicht-begangenes Verbrechen“, sagte Adorno einmal. Konsequenterweise findet dieser Teil nicht in Institutionen, sondern im öffentlichen Raum rund um den Hafen statt.
Viele Werke sind kaum als Kunst erkennbar wie Katarzyna Krakowiaks Störsender unter einer Brücke oder Maja Hammarens Performances von Jugendlichen, die als raufende Menge „Mafia“ oder „Riot Police“ spielen. Die Radikalität besteht hier in der Unscheinbarkeit, denn nur so ist die Aufmerksamkeit zurückzuerobern.
Weight, AnarKrew: An Anti-Archive, Politics of Play
Zu einer radikalen Gleichzeitigkeit lud „Weight“ (Gewicht) in ein Theater ein (Kuratoren: Ragnar Kjartansson, der sich den Co-Kurator Andjeas Ejiksson hinzunahm). Nur zwei Tage lang waren hier Performances, Videos und Skulpturen der sieben Geladenen lose im Haus verteilt, mit der Grenze zwischen Publikum, Bühne, Kunst, Schauspiel und Spiel balancierend.
In der Göteborg Kunsthalle verwirrt die Kombination des Titels „AnarKrew: An Anti-Archive“ mit den auffallend vielen als Archiv oder zumindest materialreich angelegten Videowerken (Kuratorin: Claire Tancons).
Auf eine Rückeroberung gesellschaftspolitischer Themen zielt „The Politics of Play“ (kuratiert von Katarina Gregos) mit 17 KünstlerInnen in einer ehemaligen Industriehalle (Röda Sten Kunsthalle).
Mitten im Raum läuft Fernando Sanchez Castillo beeindruckendes Video „Pegasus Dance“: Zu sehen ist eine Choreographie von Wasserwerfern – radikal, wie hier die bedrohlichen Wasserstrahlen zum eleganten Ballett mutieren und eine reale Waffe romantisch verdreht wird!
Aquarelle (Pavel Pepperstein),
Landkarten (Qui Zhijie) und Skulpturen thematisieren, wie die Kunst sich mit ästhetischen Mitteln in das Feld der Politik mischen kann, humorvoll (Olav Westphalens Cartoons) bis biograhisch (Nabil Boutros Selbstportraits, in denen er verschiedene Klischees arabischer bzw. ägyptischer Männer durchspielt). Schade nur, dass Nevan Laharts Skulpturen in ihrer schieren Menge, Übergröße und plakativen Banalität die subtileren Töne visuell niederwalzen – oder ist dies eine weitere Facette von Radikalität?
Radikalität in Zeiten der Globalisierung
In unserer unübersichtlichen Welt der Globalisierung wäre die Behauptung einer einzigen Radikalität problematisch. Die Lösung dieser Göteborg Biennale, vier Kuratoren an vier Schauplätzen mit vier Unterthemen zu beauftragen, ist daher folgerichtig. Allerdings greifen die vier Vorstellungen nicht ineinander, sondern konkurrieren massiv miteinander. Trotzdem: Künstlerische Radikalität ist noch immer möglich. Gerade im Verdichten und Zuspitzen wie im Bild der Schiffswracks entfaltet sich eine Intensivität, die sich in die Wahrnehmung einbrennt. Denn darin verschmelzen kulturelle Klischees, reale ökonomische Interessen und alltägliches Ignorieren zu einem radikalen Bild unserer heutigen Welt.
Göteborg Biennale, 7.9.-17.11.2013
in gekürzter Version veröffentlicht in: NZZ, 2.11.2013