Als mächtig, aggressiv, selbstbewusst gelten seine Frauenbilder, sein Stil wird als provokant, schrill, theatralisch beschrieben: Helmut Newton ist der wohl bekannteste und einflussreichste Modefotografie unserer Zeit. Und einer der am kontrovers diskutierten. Mit seinen Bildern prägt er bis heute die Bildstrecken großer Modezeitungen. Denn er war ein Erneuerer, und das über mehrere Jahrzehnte bis zu seinem Tod 2004. Immer wieder lotete er die Grenzen des Machbaren aus. Geboren am 31. Oktober 1920 in Berlin, widmet ihm jetzt das Kunstforum Wien eine große, coronabedingt um ein Jahr verschobene Retrospektive anlässlich seines 100. Geburtstags. Sie sei schon lange fasziniert von seinem Werk, erklärt Direktorin Ingried Brugger zur Ausstellung beim Rundgang, der Fotograf zeige uns eine „andere, eine reiche Welt, die wir alle wollen“ – und sei dabei höchst innovativ.
Im Zentrum der Schau steht seine Modefotografie, die er seit Mitte der 1950er im Auftrag großer Modezeitschriften wie Vogue oder Elle schuf. Herrlich frech seine frühe Serie aus den 1960er Jahren mit Modellen im Visier von Grenzpolizisten, oder seine „Mondmädchen“, die in einem seltsam leeren Raum posieren. Solche Fotografien machten ihn bekannt. Hier erkennt man die Einflüsse, die die Stummfilmästhetik mit den starken Schlagschatten ausübte, das Monumentale der Nazi-Ästhetik einer Leni Riefenstahl, die Glamourfotografie der 1930er Jahre, aber auch Filme. Er habe schon früh der Mode ein Ambiente gegeben und die Kollektionen in Erzählungen eingebettet, erklärt Kuratorin Evelyn Benesch. Zu einem der gefragtesten Mode- und Werbefotografien wurde Newton in den 1970er, spätestens in den 1980er Jahren dann zum Star, wozu seine provokanten Nacktfotografien maßgeblich beitrugen. Mit einer kleinen Auswahl daraus beginnt auch die Schau im Kunstforum Wien. Auf einer Aufnahme erkennen wir im Spiegel neben einer Nackten den Fotografen bei der Arbeit. Daneben sitzt deutlich gelangweilt dreinschauend seine Ehefrau June Newton. Die Nackte ist allerdings nur Staffage. Der Anlass der Aufnahme ist jener Mantel, den Newton selbst trägt – welch gewagtes Arrangement für ein Modefoto! Auf vielen Fotografien sind die Namen der Kollektionen genannt, aber nicht alles sei recherchierbar gewesen, sagt Benesch. Denn nicht die Mode, sondern der formal-ästhetische Aspekte der Fotografien stehe in dieser Ausstellung im Fokus.
Und offensichtlich auch die Nacktfotografien, muss man hinzufügen, die zu seinen wichtigsten Werken gehören – und mit denen er große Kontroversen auslöste, die bis heute anhalten. Berühmt ist seine Serie „Naked and Dressed“, die 1981 für die italienische und die französische Vogue entstand: Erst sind die Models in Haute Couture gekleidet, dann in exakt derselben Pose und Anordnung splitternackt fotografiert. Parallel entstanden seine „Big Nudes“, lebensgroße Abzüge von Nackten. Er nannte diese Serie einmal „Modefotografien ohne Kleidung“. Damals sorgte die Serie für einen Skandal im Blätterwald. Wäre es heute eine #MeToo-Diskussion, die davon ausgelöst würde? Das weist Direktorin Brugger im Gespräch bei diesen Werken als „lächerlich“ ab. Denn die Entscheidung zur Nacktheit „komme aus der Modefotografie, die Modelle sind keine Opfer, sondern im Gegenteil sehr selbstbewusste Akteurinnen“, betont sie. Newton geben den Frauen auf den Nacktfotos „eine Persönlichkeit“ – durch die radikale Inszenierung, das extrem kalte Licht? Durch die Pose oder durch Stöckelschuhe als einzigem Kleidungsstück? Merkwürdige Einschätzung. „Verselbstständigte Fetische“ nannte die Kunsthistorikerin Noemi Smolik diese Schuhe ähnlich wie auch die wiederkehrenden Peitschen oder durchsichtige Unterwäsche in Newtons Fotografien einmal, die für sexuelles Begehren stehen. „Ich bin ein professioneller Voyeur“, wird Newton im ausführlichen Katalog zitiert.
Aber bleiben wir bei den formal-ästhetischen Aspekten: Newtons Fotografien seien „pure Kunstgeschichte“, betont Matthias Harder, Co-Kurator und Direktor der Helmut Newton Foundation Berlin. Denn Newton ließ sich auch von Alten Meistern bis zu den Surrealisten inspirieren – um es dann „gegen den Strich zu bürsten“, wie Harder die oft radikal unkonventionellen Bildkompositionen nennt. Manches wäre heute kaum noch möglich, betont er, wie etwa die Fotografie eines inszenierten Schmuckstücks an einer Hand, die andere Hand hält ein totes Huhn. Nahezu all seine Werke haben einen deutlich erotischen Charakter, denn er präsentiert uns die Modekollektionen als Objekte der Begierde. „Fotografie ist immer eine Art der Verführung“, sagte Newton einmal. Seine Bildwelt ist klar gegliedert: Der Mann fotografiert, die Frauen sind die Objekte. Nur in seinen wunderbaren Portrait-Fotografien kommen dann auch mal Männer ins Bild, Andy Warhol, Mick Jagger, Jack Nicholson, Karl Lagerfeld, David Bowie. Berühmtheiten, die perfekt in seine Welt des Luxus und der Exzentrik passen. Aber natürlich nahezu nie nackt sind. Eine Ausnahme aber sehen wir im Kunstforum Wien: Der Modezar Gianni Versace liegt unbekleidet auf einem Sofa, sein hochgezogenes Knie verdeckt sein Gemächt- gilt hier auch die Idee einer „Persönlichkeit durch Nacktheit“? Im Hintergrund erkennen wir ein historisches Schlachtengemälde, sollen wir das interpretieren? „Seine Bilder sagen viel aus über Männlichkeit“, erklärt Isabella Rossollini in dem Film „Mehr als Mode“ von Gero von Boehm über Newton, und Hanna Schygulla sagt im selben Film: Newton „fotografierte Frauen so, wie Riefenstahl Männer fotografierte“. Wie immer man die Fotografien einschätzt, eines ist sicher: Was wir wo und wie von Newton sehen, bestimmt letztendlich kein: Kurator:in, kein:e Direktor:in, sondern die Newton Foundation – und die haben eine klare Agenda, zu der ein kritischer Blick kaum gehört.
kürzere Version veröffentlicht in: Die Presse, 18.10.2022