Hinter den weißen Wänden – Julia Voss

20. Jul. 2015 in Kunstmarkt

Philipp Deines

Über Nacht wurde seine Ausstellung zum Skandal. Denn als Georg Baselitz 1963 in Berlin seine Bilder zeigte, meldete am nächsten Tag eine Boulevardzeitung: „Pornographie am Kurfürstendamm – Sittenpolizei greift ein!“ und berichtete, die Staatsanwaltschaft habe Bilder beschlagnahmt.

Die Geschichte brachte Baselitz den bis heute anhaltenden Ruf als „Kunstrebel“ ein. In ihrem Buch „Hinter weißen Wänden“ (Merve Verlag Berlin) erzählt die FAZ-Kunstkritikerin und Redakteurin jetzt die wahre Begebenheit: Nicht die Bilder waren der Auslöser, sondern ein mit dem Galeristen befreundeter Journalist. Er hatte den Skandal bewusst initiiert, dem Blatt die erfundene Geschichte erzählt – und die Staatsanwaltschaft handelte erst aufgrund der Schlagzeile.

Es ist eine der vielen Geschichten, die Voss für ihr beispielreiches Buch mit den pointierten Illustrationen von Philipp Deines recherchiert hat. Ihr Anliegen ist es, hinter die weißen Wände der Ausstellungen zu schauen: Wer schreibt Kunstgeschichte, welche Rolle spielen dabei die Museen, der Markt, die Sammler, die Kritiker? Eine ihrer Schlussfolgerungen: Kein Künstler ohne Skandal, keine Karriere ohne Netzwerk, kein Netzwerk ohne Marketing – auch Jeff Koons´ Erfolg basiert darauf: 1988 zeigte er auf zwei Kontinenten gleichzeitig in drei Galerien, voraus ging eine Anzeigenkampagne in vier Kunstmagazinen. „In der Kunstgeschichte gibt es keine Alleingänge, weder die selbsterklärten Bösewichte wie Baselitz, noch die smarten Selbstvermarkter wie Koons,“ fasst es Voss zusammen.

Aber nicht nur Künstlerkarrieren, auch Auktionsrekorde werden analysiert wie die 58,4 Millionen Dollar, die Jeff Koons „Ballon Dog (Orange)“ 2013 einbrachte. Dafür führt Voss einen treffenden Vergleich ein: Vaucansons Ente. Vaucanson präsentierte 1739 eine bis heute geheimnisvolle mechanische Ente, die sich bewegen, fressen, verdauen und ausscheiden konnte. Es ist eine passende Analogie, um „ein wesentliches Phänomen des Kunstbetriebs zu verstehen: dass es eine Schauseite gibt, die viel Aufsehen erregt, und ein Innenleben, das verborgen bleiben soll.“ Ein Teil dieses ´Innenlebens´ bei Koons Rekordpreis liegt in zwei kleinen Zeichen begründet, die in Auktionskatalogen eine brisante Information anzeigen: Der Kreis und die Raute kennzeichnen Lose, für die eine „third party“ einen Mindestpreis garantiert. Name und Summe sind streng vertraulich. Tatsächlich ist es weit mehr als eine ´Garantie“: Dieser Dritte darf mitbieten. Übersteigt dann das Ergebnis den vereinbarten Mindestpreis, „wird der Garantiegeber an diesem Gewinn prozentual beteiligt“. Transparenz im Auktionshandel? Bei weitem nicht! „Ist der Garantiegeber selbst der Höchstbietende, zieht das Auktionshaus die zuvor vereinbarte Gewinnbeteiligung vom Preis ab.“ Veröffentlicht wird natürlich der Hammerpreis. Die Rolle des Dritten kann sowohl der Künstler selbst als auch ein Galerist übernehmen. Artnewspaper berichtete gerade, dass es mittlerweile nicht mehr nur diese ´third-party guarantee´ gibt, sondern auch ´third-party partners´: Anteile an Garantien und also an riskanten Zusagen werden verkauft.

Voss´ zentrale Schlussfolgerung: „Die Kunstwelt durchläuft einen Strukturwandel“. Zunehmend stehen den kleinen Einzelhandel-Galerien die mächtigen Auktionshäuser und große Ketten wie Gagosian mit Filialen auf allen Kontinenten gegenüber. Idealismus auf der einen, Markthoheit und Spekulation auf hohe Rendite auf der anderen Seite. Parallel dazu ist ein neuer Sammlertypus entstanden, dem es vor allem um Gewinne geht. In dieser Situation möchte Voss eine „gewisse Waffengleichheit“ herstellen und appelliert an ihre Kollegen und Kolleginnen, auch über Strategien zur Wertsteigerung zu berichten, zu analysieren, wie Schlagzeilen kreiert und welche Interessen bedient werden: „Einige Kunstwerke werden heute ebenso professionell und profitabel kalkuliert wie das neueste Luxusauto. Trotzdem ist es noch immer üblich, über Kunst zu schreiben, als handele es sich um eine bedrohte Art.“

Aber der konstatierte Strukturwandel betrifft nicht nur die Verkaufsprozesse. Wenn Gewinnspekulationen im Vordergrund stehen, „dann verändert dies auch die äußere Gestalt.“ Voss zitiert den von Scott Reyburn geprägten Begriff „Flip-Art-Ästhetik“: Die Bilder von Künstlern wie Parker Ito, Dan Rees, Lucien Smith oder Oscar Murillo seien „vorwiegend großformatig, auffällig und zahlreich, außerdem abstrakt, wobei die Geschichte der Malerei anspielungsreich aufgegriffen werde.“ Sie alle liefern Dekoratives mit hohem Wiedererkennungswert – denen in oft prekären Verhältnissen lebende Schreiber den notwendigen Inhalt bzw. Mehrwert nachliefern, möchte man ergänzen. Übrigens gilt das nicht nur für Zeitgenossen, kolportiert wird, dass Galerien wie Gagosian in den USA jungen Kunsthistorikern die Promotion finanzieren – und natürlich das Thema vorgeben, etwa um bisher gering geschätzte Spätwerke akademisch aufzupolieren.

Nicht nur Galerienketten, Kunstinvestoren, intransparente Auktionsdetails und eine eigene Ästhetik sieht Voss als Indikatoren der gravierenden Veränderung. Auch der Boom von Privatmuseen deute darauf. „Inzwischen gibt es mehr Privatmuseen für zeitgenössische Kunst als öffentliche“, schreibt Voss – und von Unternehmen finanzierte, private Kunsthallen, muss hinzugefügt werden: In Mailand teilen sich drei Stiftungen das Feld: Prada, Trussardi und Hangar Bicocca der Pirelli Group. Die städtische Galleria d´Arte Moderna wird seit drei Jahren von der UBS unterstützt, die die Renovierung finanzierte, im Museum aber auch Ausstellungen der UBS Art Collection unterbringt. Die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem verschwimmt zunehmend. Auf dem Symposium in der Fondation Louis Vuitton in Paris im Juni dieses Jahres erzählte Tate Modern-Direktor Chris Dercon von einer vielsagenden Strategie einiger Londoner Galerien: Werke gefragter Marktkünstlern werden von manchen Kunsthändlern nur im Duo verkauft – eines für den Eigenbedarf, das andere muss dem Museum, der Tate Modern geschenkt werden. Laut Dercon ist die Antwort der Tate darauf: „Wir überlegen, Neuerwerbungen komplett einzustellen“ – ein Beweis für jene Frage, mit der Voss ihr Buch schließt: „Was würde passieren, wenn eines Tages Museen nicht mehr wie der Finanzsektor wachsen und expandieren wollen, sondern einer eigenen Logik folgen?“ Sie sieht einen möglichen Weg allerdings in der gängigen Zweiteilung im Musikbetrieb: Den öffentlich finanzierten Häusern für Opern stehen jene für privat geführte Musicals zur Seite. Weit entfernt sind wir davon nicht mehr, aber Voss´ vehementer Forderung nach mehr Transparenz kommt das kaum zugute. Ihr Schlusswort jedenfalls kann man nur unterstreichen: „Die meisten wünschen sich das Kunstsystem als eine Welt, in der viele Welten möglich sind.“

veröffentlicht in: Die Presse, 19.7.2015