Indigene erobern gerade die Museen und Biennalen, in Venedig ist der Zentrale Pavillon von einem riesigen Wandbild des indigenen Kollektivs MAHKU bedeckt. Viele Geschichten stecken darin – aber ist es auch Kunst?
In frühen Zeiten wollten Menschen die Passagen zwischen dem asiatischen und dem amerikanischen Kontinent durch die schmale Beringstraße überqueren. Sie fanden einen riesigen Alligator, der sie auf seinem Rücken zu transportieren versprach. Dafür sollten sie ihn auf dem Weg mit Nahrung versorgen. Aber das wurde immer schwieriger. Als sie schließlich einen kleinen Alligator jagten, fühlte sich der große Alligator verraten – und verschwand im Meer. So sei die Trennung zwischen verschiedenen Menschen, Orten und Sprachen entstanden, sagt die Sage.
Diese Erzählung bedeckt gerade zur 60. Biennale Venedig als riesiges, farbenfrohes Wandgemälde die Fassade des Zentralen Ausstellungspavillon in den Giardini. Schöpfer dieses Beitrags ist das 2013 in Brasilien gegründete Kollektiv MAHKU (Movimento dos Artistas Huni Kuin). Auch im Weltmuseum Wien sind jetzt zwei Werke von MAHKU ausgestellt. Unter dem Titel „(Un-)Bekannte Künstler des Amazonas“ treffen hier Sammlungsobjekte des Museums auf zeitgenössische Beiträgen indigener Künstler des privaten Museu de Arte Indigena im brasilianischen Curitiba.
Indigene in Brasilien
Die Schätze indigener Völker füllen viele westliche Museen. Offiziell gibt es noch 115 meist isoliert lebende Völker im Amazonas-Regenwald, dazu 725 sogenannte „Indianerreservate“. Über 200 indigene Stämme leben in Brasilien, lesen wir auf dem Wandtext. Im Weltmuseum Wien allein befinden sich über 4000 historische Objekte aus dem brasilianischen Amazonasgebiet.
120 davon sind jetzt in sieben Vitrinen in der Ausstellung zu sehen, Federkunst, Holzobjekte, Körperschmuck. Sortiert nach Stämmen, erläutern kurze Texte Herkunft der Objekte, Kennzeichen der Stämme und die Objekt-Funktionen in Ritualen. Oft ist kaum auszumachen, was ein historisches Sammlungs- oder ein zeitgenössisches Kunststück ist.
Die Schemel der Tukano etwa. In der Urzeit saß die Urmutter des Stammes auf einem Schemel und erschuf die Welt, lernen wir. Noch heute erhalte jedes Kind des Stammes einen Schemel – als geistiges Fundament, dass sie mit der Welt verbinde, das ihnen aber auch die Verantwortung übertrage, das Wissen zu bewahren und weiterzugeben.
Großartiges Kunsthandwerk – oder indigene Kunst?
In einem Video sehen wir, wie die Schemel aus Baumstämmen zu fantasievollen Tiergestalten gearbeitet und kunstvoll bemalt werden. In der Vitrine stehen auch kleine solcher Holzobjekte. Großartiges Kunsthandwerk – oder Kunst?
Keine indigene Sprache Amazoniens kenne ein Wort für Kunst, lesen wir. Unsere westliche Kultur allerdings trennt zwischen Kunsthandwerk und Kunst, unscharf, aber beharrlich. Oft ist die Grenze fließend, und doch gilt: Während im Handwerk höchst kreativ funktionale Objekte wie Möbel oder Gefäße, auch Schmuck kreiert werden, sind Kunstwerke frei von Gebrauchsansprüchen. An einem Punkt finden beide zusammen: Beides kann dazu dienen, Geschichten zu erzählen. An einem trennen sie sich: Kunstwerke wollen meist eine neue Wahrnehmung anstoßen, unsere Weltsicht ändern. Dafür ist die Funktionslosigkeit entscheidend.
Mit der kleinen, intensiven Ausstellung im Weltmuseum, die kostenfrei zu besuchen ist, steht diese Trennung anhand indigener Werke wieder zur Debatte – was noch verstärkt gilt für die heurige Biennale Venedig. Dort sehen wir nicht nur MAHKUs Fassadenbild und viele weitere Beiträge in der Biennale-Ausstellung.
Auch in einigen National Pavillons in den Giardini gastieren First Nation-Künstler. Den Pavillon Brasiliens haben die ausstellenden Mitglieder des Tupinamba-Volks umbenannt in Hãhãwpuá – „großes Territorium“. „Wir sehen den Namen Brasilien für das Territorium als einen Spitznamen“, betonen sie im Gespräch.
Im Pavillon in Venedig zeigen sie Skulpturen und Videos, in denen die Traditionen des Fischens und der traditionellen Kostüme wie die „Tupinamba-Mäntel“ im Zentrum stehen – beides „verbinde die Epochen von Gestern und Heute“, erklären sie. Diese Mäntel sind schamanische, mit Federn versetzte Ritual-Umhänge wie sie als Raubkunst vieler Museen gehören. „Wir sind nicht nur Künstler, wir haben verschiedene Rollen gleichzeitig“, erklärt ein Mitglied des Tupinamba-Volks, „Kunst ist eines unserer Werkzeuge, um über die Realität von Indigenen zu sprechen“.
Dazu gehört der Erhalt und die Weitergabe ihrer Traditionen – und eine Mission, auf die wir auch im Weltmuseum Wien treffen: Viele Werke Indigener erzählen von der Beseelung der gesamten Welt, von der Existenz von Geistwesen in Flüssen, Wäldern, Pflanzen – und halten uns dazu an, danach zu handeln.
Orange Striche neben den Augen
Nahezu jedes Objekt der indigenen Kulturen betont die Verbindung aller Wesen miteinander, den Austausch mit Wesen aller Art, betont das respektvolle Miteinander. Ihre Werke zielen darauf, unser Wahrnehmung der Welt zu ändern. Im Gespräch in Venedig trugen die Künstler und Kuratoren des Pavillon Brasiliens orange Striche neben den Augen. Das sei kein reiner Schmuck, erklärten sie – es helfe, die Augen zu öffnen.
Dieser Anspruch steht in bester Tradition unseres westlichen Kunstverständnisses. Ob historisch oder neu, freie oder angewandte Kunst, das Ziel der Wahrnehmungsverschiebung ist klar: die auf alten Weisheiten und aktuellen Notwendigkeiten basierende Weltsicht anzuerkennen. Warum das Weltmuseum an seine klare Ausstellung daran dann noch drei Vitrinen in flohmarktähnlicher Anordnung mit einem Materialsammelsurium von A wie Achat bis Z wie Zinn anhängt, muss jemand anderes erklären.
veröffentlicht in: Die Presse, 14.5.2024