Julie Mehretu im Palazzo Grassi, Pierre Huyghe im Punta della Dogana – unterschiedlicher könnten zwei Ausstellungen kaum sein. Kontrolllust und Kontrollverlust.
Beide Häuser gehören zum Imperium des französischen Multimilliardär Francois Pinault. Er hatte sich 2005 enttäuscht über die französische Bürokratie von Paris abgewandt und seine Kunststiftung stattdessen nach Venedig verlegt. Für 29 Millionen Euro kaufte er der Fiat-Familie Agnelli den Palazzo Grassi ab. 2007 sicherte er sich dazu Punta della Dogana für eine 30jährige Nutzung. Beide Bauten ließ er vom japanischen Architekten Tadao Ando umbauen. Seither sind sie mit je 5000 Quadratmeter Ausstellungsfläche zu Tempeln für zeitgenössische Kunst geworden.
Was immer hier gezeigt wird, hat direkt mit seiner Kunstsammlung zu tun. Rund 10.000 Werke von 350 Künstlern soll er besitzen. Von Julie Mehretu kaufte Pinault die ersten Bilder schon vor zwanzig Jahren, erzählt Bruno Racine. Er ist Direktor der beiden Häuser in Venedig. Mittlerweile gehört Mehretu zu den großen Kunstmarktstars. Bekannt ist die 1970 in Äthiopien geborene, heute in New York lebende Malerin für ihre dynamischen Abstraktionen, die in vielen, übereinander gelegten Schichten entstehen. Ausgangspunkt sind oft Fotografien, früher von Architekturen, später von Demonstrationen oder Umweltkatastrophen. Hoch aufgelöst, greift sie einzelne Farben heraus, verfremdet das Bildmotiv bis zur Unkenntlichkeit, ohne dabei die Grundstimmung aufzugeben. Zuletzt legt sie ein intuitiv entstandenes Liniengeflecht darüber – Skizzen mache sie nie, betont sie im Gespräch in Venedig.
Jetzt steht ihr der gesamte Palazzo Grassi zur Verfügung – fast. Denn sie lud eine kleine Schar von Freunden und vor allem Freundinnen ein, ihre Personale zu bereichern. „Ensemble“ nennt sie ihre Schau, als handele es sich um eine eingespielte, ein gemeinsames Stück aufführende Gruppe. Tatsächlich sind ihre oft farbintensiven, riesigen Gemälde der alle anderen überstrahlende Star – und das gilt auch für die Gemeinschaftsproduktion mit Nairy Baghramian. Von Mehretu stammen die brandneuen, fast transparenten, im Raum freistehenden Bilder. Baghramian entwickelte dafür die massiven, skulpturalen Rahmen. Sie wollte ein „Spannungsverhältnis“ schaffen, wie sie erklärt, und „Julie wollte unbedingt die Brutalität der Rahmen“. Ihr Name allerdings ist auf dem Wandlabel in die Materialliste abgerutscht.
Erstrahlt Mehretus Ausstellung im hellen Licht, so treten wir bei Pierre Huyghe in finstere Dunkelheit. Für Venedig experimentierte er mit Künstlichen Intelligenzen. „Liminal“ nennt er seine Schau in der Punta della Dogana.
Die Hallen sind gerade so weit ausgeleuchtet, das man nicht stolpert. Zwischen den wenigen, oft älteren Videoprojektionen und den mit Tieren gefüllten Aquarien schleichen schwarz gekleidete Gestalten durch die Räume. Immer paarweise. Ihr Gesicht ist verhüllt mit futuristisch aussehenden, goldgelben, manchmal oben am Kopf leuchtenden, semitransparenten, mit Sensoren ausgestatteten Formen. Diese gesichtslosen Masken sammeln Worte, erklärt der 1962 in Paris geborene Künstler.
Denn diese Masken sollen eine eigene Sprache entwickeln – aber warum? Er suche eine „radikale Andersheit“, erklärt er bei einer Fragestunde, „eine Erfahrung in jenem, was man nicht erfahren kann“. Darauf bezieht sich wohl auch der Titel, denn ´Liminalität´ benennt einen fluktuierenden Schwellenzustand, einen Raum des ständigen Wandels. Hyghe spricht von „anderen Realitäten“, in denen ein Gefühl der Befremdlichkeit besteht – was ihm besonders in seinem neuesten Video „Camata“ gelungen ist. Drei von einer KI gesteuerte Kameras filmen in der chilenischen Wüste Atacama ein auf dem Boden liegendes, menschliches Skelett, im Licht reflektierende Kugeln und wechselnd auch gegenseitig. Roboterarme scheinen ein Beerdigungsritual auszuführen. Zwischen Echtzeit und mit KI-Technologie gefilmt, irritiert der Film mit der Grenze zwischen dem toten menschlichen Körpr und den technoiden körperlosen Akteuren. Die Übergänge sind irritierend abrupt, der Wechsel zwischen extremen Nah- und Fernaufnahmen merkwürdig unmotiviert – die KI agiert offensichtlich zufällig. Auch hier gilt, was Hyghe zu „Liminal“ sagt: „Ich wollte die Kontrolle abgeben“ – das ist wohl der größte Kontrast zwischen diesen beiden Ausstellungen.
Palazzo Grassi, Julie Mehretu 17.3.2024-6.1.2025
Punta della Dogana, Pierre Huyghe, 17.3.-24.11.2024
veröffentllicht in: Die Presse, 2.4.2024