Eigentlich bezeichnen Dessous erotisch wirkende Reizwäsche. Jetzt reiht sich das aus dem Französischen entlehnte Wort für ´Unteres´ nahtlos in die Ausstellerliste des Belvedere 21. Dort läuft der zweite Teil der Überblicksausstellung „Über das Neue“. Wird im Belvedere jetzt Unterwäsche gezeigt? Nein! Dessous ist der Name einer alternativen Galerie, die 2014 von Anny Wass und Gert Resinger gegründet wurde. Im Belvedere zeigt „Dessous“ stolze 60 Künstler. Sogar neun Deckenlampen gehören dazu, alles dicht nebeneinander, wunderbar farbenfroh, divers, plakativ, sogar ein wenig erotisch oder gar konzeptuell. Eine inhaltliche Linie ist nicht zu erkennen, der Anspruch liegt im puren Zeigen.
Damit treten sie provokant in direkte Konkurrenz zu ihrem Gastgeber, dem Museum. Denn auch „Über das Neue“ zeigt eine wilde, konzeptbefreite Mischung verschiedenster künstlerischer Praxen. Auch hier ist kein roter Faden zu erkennen, das fünfköpfige Kuratorinnenteam (Christiane Erharter, Andrea Kopranovic, Ana Petrović, Claudia Slanar, Luisa Ziaja) will „Diversität“ und eine „Bestandsaufnahme“ von „Aktualitäten und Aktualisierungen“ zeigen, wie sie es im Gespräch nennen. Für die von April 2023 bis Jänner 2024 laufenden drei Teile wählten sie insgesamt 24 Projekträume und 46 Künstler:innen der „Wiener Szenen und darüber hinaus“, wie es im Untertitel heißt. Jetzt im zweiten Teil sind es 19 Positionen, die wie schon im ersten Teil auf kojenähnliche, verstellbare Ausstellungswände verteilt sind. Das Architekturkollektiv AKT hat dafür Stahlachsen mit Rändern im Raum verteilt, sie sprechen von „Wagen“. Standen manche Wagen im ersten Teil im krassen Kontrast zu den ausgestellten Werken, so fügt sich jetzt beides weitaus passender zusammen. Ob die fließenden Formen in Sarah Bechters Bildern oder Sara Ghalandaris filigrane Skulpturen aus ausrangierten Gestellen für Reifröcke, diesmal ist die Sprache der Kunst lauter als jene der Wandkonstruktionen. Sogar die detailreichen Keramiken von Anna Bochkavo lassen die massiven Reifen visuell verschwinden, so stark ist ihre Bildwelt: Auf dem Boden steht eine dystopische Landschaft, an den Wänden hängen von Kosmonauten-Fotografien inspirierte Zeichnungen in fantasievollen Keramikrahmen. Vielleicht sind es auch die starken Kontraste der Werke, die die Ausstellungsarchitektur in den Hintergrund drängen. In einer Blickachse mit Bochkavos Keramiken stehen Daniel Ferstls poppige, in ihrer Form vermenschlichte Stoffblumen-Skulpturen. Die Bilder dahinter erscheinen wie mit Zuckerguss gemalt. So niedlich seine Werke erscheinen, so brachial entpuppt sich die Installation auf den zweiten Blick. Denn die Bildmotive auf den T-Shirts zitieren Szenen aus Horrorfilmen, die Bilder zeigen Aggression und Gewalt.
Alle Beiträge dieser Ausstellung greifen in mehr oder weniger offensichtlicher Weise aktuelle Themen unserer Zeit auf, Gasper Kunsics so harmlos-plakativ erscheinende Wand- und Raumobjekte kreisen um die Frage, wie sich „ein konservativchristliches Umfeld mit queerer Identität verbinden lässt“, wie wir im Erklärungstext lesen können. Dafür jongliert Kunsics in seinen Werken mit formalen Anleihen aus Ex-Jugoslawien: aus Folklore stammende Bildelemente, Textzeilen aus Liedern als Titel und eine Neuinterpretation der Nationalflaggen-Farben, die er zusammenmischt und so zu Rosa- bis Lilatönen kommt – eine Anspielung auf die queere Regenbogenflagge.
Gleich daneben irritiert ein nahezu leerer Wagen: Unter dem Namen Laurenz stehen hier lediglich Sessel und ein Tisch mit Kaffeemaschine. Laurenz ist der alternative Ausstellungsraum von Aaron Amar Bhamra und Monika Georgieva. Im Belvedere 21 haben sie eine Art Lounge eingerichtet. Allerdings kann kein Kaffee getrunken werden. Die Hausordnung verbietet jegliche Art von Essen oder Trinken in dem denkmalgeschützten Bau. Überrumpelt uns Dessous mit einem frechen Overkill von Kunst, so wählt Laurenz eine konzeptuelle Strenge, in der lediglich in einem dicken, weißen Buch die Werke der bisher rund 80 ausgestellten Künstler nachgeschlagen werden können.
Dessous und Laurenz markieren mit Überfülle und leeren Wänden plus Publikation zwei radikale Möglichkeiten von Überblicksausstellungen. „Über das Neue“ tendiert deutlich zum ersten Weg. Aber Dessous und Laurenz sind Off-Spaces, wo ist der Unterschied zur musealen Schau? „Eigentlich gibt es keinen“, gibt Kuratorin Andrea Kopranovic zu – auch das gehört zum Thema „Über das Neue“.
veröffentlicht in: Die Presse, 14.7.2023
Belvedere 21, Über das Neue, 14.7.-15.10.2023