Kriegshelden, Löwen und Feldherren – die Welt auf dem Trafalgar Square im Herzen von London ist männlich. In dunklem Glanz stehen heroische Bronzefiguren auf hohen Sockeln. Eines dieser Podeste allerdings blieb leer.
Ursprünglich sollte hier König William IV verewigt werden. Aber die Finanzierung kam nie zustande. Mehr als 150 Jahre später begann dann jenes Projekt, das unter dem Titel „Fourth Plinth“ (Vierter Sockel) in London alljährlich für Aufregung sorgt. Denn seit 1999 wird hier regelmäßig das Werk eines zeitgenössischen Künstlers enthüllt – meist kritische bis provokante Beiträge. Marc Quinn stellte eine 3,60 hohe Marmorskulptur einer nackten, schwangeren Frau mit verkürzten Beinen und ohne Arme (2005) auf – ein Frontalangriff auf die klassische Ästhetik von Statuen im öffentlichen Raum. Anthony Gormley lud die Menschen ein, auf das Podest zu klettern (2009) – 2400 Passanten folgten dem Aufruf zur Selbsterhebung. Zuletzt irritierte Elmgreen & Dragsets goldenes Kind auf einem Schaukelpferd, die Hand heroisch in die Höhe gestreckt (2012) – eine wunderbar Verdrehung des pathetischen Reiterstandbilds von König George IV, das gleich nebenan steht. Und seit Ende Juli thront jetzt hier Kathrina Fritschs fast fünf Meter großer, knallblauer Hahn.
„Hahn / Cock“ tituliert die 57jährige, Düsseldorfer Künstlerin ihren Beitrag – und stellt damit die Londoner vor einige Probleme. Zwar ist ´cock´ eine korrekte Übersetzung von ´Hahn´, aber in der englischen Umgangssprache ist das Wort ein rüder Begriff für das männliche Glied. Wie also sollte Londons Bürgermeister Boris Johnson diese Skulptur feierlich enthüllen, wenn die Nennung des Titels Gelächter bis Peinlichkeit erzeugt? Johnson rettete sich mit der Formulierung „it´s a big blue … bird“. Und auch die Journalisten müssen sich entscheiden, ob sie mit Wörtern wie Aufragen (erecting), Stehen und ähnlich doppeldeutig zu Lesendem spielen oder, wie die meisten, diesen Pfad gänzlich mit dem Begriff „cockerel“ (junger Hahn) meiden.
Aber nicht nur diese Wortspiele erregen die Gemüter. Dieser stolze Hahn, der hier bis Anfang 2015 über den Platz wachen wird, ist ein Angriff auf die Männerwürde am Trafalgar Square. Schon vorab regten sich massive Proteste, die eine Beleidigung der bronzenen Persönlichkeiten auf den anderen Säulen rundum beklagen, denn der Hahn sei „unanständig“ (rude). Zudem ist der Platz Englands Sieg über Napoleon 1805 gewidmet – was also macht hier mittendrin das Nationalsymbol Frankreichs? Ist es ein später Sieg oder umgekehrt als aufgeplusterter Gockel ein Angriff auf die französische Nation, die hier als geliebter Feind zum Spott freigegeben sei?
Der blaue Hahn polarisiert und fasziniert gleichermaßen, denn die großartige Skulptur spielt raffiniert und in großer Komplexität mit dem Kontext. Fritsch, die in den 1980er Jahren mit ihrer gelben Madonna in Münster bekannt wurde, sieht die vielfältigen Reaktionen gelassen. Sie nennt es eine „feministische Skulptur“, denn der Platz und die Straßen mit den Männermodegeschäften rundherum seien männlich dominiert und ihr Hahn stellt genau diese Situation dar.
publiziert: Die Presse, 13.8.2013