Kontextkunst

10. Sep. 1993 in Ausstellungen

Wir sind aufgewachsen mit Popmusik, Illustrierten und Fernsehen. Über Filmzitate, Songzeilen und Mode-Entscheidungen wurden Identitäten bestimmt. Kollektives ästhetischen Verhaltes und ideologische Zugehörigkeiten erwuchsen nicht aus High-Culture Produkten, sondern aus den permanent verfügbaren Medien.1 Dem Selbstbewußtsein einer alltäglichen Popkultur ging eine Relativierung des High-Culture-Bereichs zur Seite.
Schräg- und übereinandergehängte Fotos und Zettel zierten die Wände. Che Guevara hing neben Mark Bolan. Diese Jugendzimmer Poster-Hängung ist Teil unserer soizokulturellen Biographie, wird heute an manchen Küchenwänden mit anderen Materialien weitergeführt und wurde im Hagenener Karl Ernst-Osthaus-Museum von den DANKlern  (Herausgeber des Fanzin „Dank“, Christoph Bannert, Hans-Christian Dany, Andreas Siekmann) und „Friesenwall 120“ (Stephan Dillemuth) auf Institutionsfähigkeit geprüft. Das Material ist im Grunde endlos: Werke aus dem Lagerbestand des Museums, Bilder und Skulpturen der Künstler, ergänzt durch Plattencover und Textfolien. Den Zusammenhang bildete das Museum bzw. die Ausstellung „Aus der Werkstatt“. Die Kriterien der Installation von Friesenwall 120 und DANK sind kaum zu benennen, die aus der eigenen Biographie entwickelten Interessen legen sich über die Werke der bildenden Kunst. Übereinander genagelt, in Plastikfolien eingepackt, durch Textfolien verbunden, überschrieben mit Headlines wie z.B. „Langeweile ist besser als Wirklichkeit“ oder „erst ein Tausendstel des Grauens ist erkannt“, wird eine Form von ‚aktiver Kunstgeschichte‚ probiert. In dem auf die Wand skizzierten Wohnzimmer hängen Werke des Deutschen Informel. Weder kann hier von Petersburger Hängung noch von werkgerechter Präsentation oder gegenseitiger Interpretation gesprochen werden. Es ist eher ´Institutionsausstellung als Redaktionsarbeit´, der Versuch, das Prinzip vom Friesenwall 120 (Köln) und von dem Fanzine DANK (Hamburg) auf Museumstauglichkeit zu testen. Statt kategorisierbarer Kriterien ist eine konsequente Individualisierung von ‚Beständen‘ präsentiert.
II.
Bereits im Deutschunterricht haben wir gelernt, daß künstlerische Produktionen (Literatur) nicht getrennt von den kulturellen und sozio-politischen Verhaltensformen der Epoche gelesen werden können. Die politisch-sensibilisierte  Wahrnehmung der Künste hatte einen roten Begriffs-Faden: ‚Kontext‘. Was in den 60er und 70er Jahren eine Rezeptionskategorie war, ist jetzt Produktionskonzept. Material, Themen, Arbeitsmethode, Präsentationsweisen und Veröffentlichungsformen  der kontext orientierten Kunst entsprechen der veränderten kulturellen Sozialisation. ‚Kontext‘ ist eine Kategorie, die nicht nur künstlerische Praxis, sondern auch die Begriffs- und Theoriearbeit betrifft.
III.
Pop-Musik, Illustrierte, TV und Mode haben Normen gesetzt, die im Feld der Kunst nicht ignoriert werden können. Eine Unterteilung in Hoch- und Trivialkultur ist dabei zwar nicht wegzudiskutieren, zumal es im Kunstdiskurs manifestiert und in Kunst-Institutionen verteidigt wird. Aber weder als Wertkategorien noch als Rahmenbedingung ist diese Distanzierung verwendbar. Der traditionelle Kunstbegriff, mit seiner Orientierung auf die ‚hohen‘, bildungsgeschichtlich sanktionierten Künste, steht in keiner Verbindung mehr zu den tatsächlich wirksamen ästhetischen Momenten und kulturellen Aktivitäten. Kunst (ent-)steht im Kontext von bereits existierenden Kunstdiskursen, ist organisiert als ein soziales und kulturelles Phänomen und beeinflußt von sozio-ökonomischen Faktoren. Die im Bereich der ‚Kultur‘ stattfindenden Entwicklungen – von Massenproduktionen bis zu Musik-Bewegungen – sind gleichermaßen Bestandteil dieses Szenariums. ‚Kultur‘, das bezeichnet nicht nur die Geistesleistungen, sondern alle Lebensgewohnheiten. Ob Kiosk oder Kunst: das Kommunikationsangebot richtet sich gleichermaßen auf Urteilsbildung und Affekte. Unter dem kontextualisierenden Blickwinkel sind Material, Thema und Darbietungsweise formal und inhaltlich nicht separierte Bedingungen, sondern historisch bestimmt. Was am Kiosk zu kaufen ist, kann mit denselben ästhetischen Parametern beurteilt werden wie die künstlerischen Gipfelleistungen – und beides kann wiederum ob ihrer gesellschaftlichen Funktion betrachtet werden. Die Entscheidung liegt nicht nur beim Publikum,  sondern auch im Produkt.
Die in den meisten Kunstinstitutionen zu beobachtende Separierung der Kunst vom Background ‚Kultur‘ ist ein Anachronismus. Damit zusammenhängend wird auch eine künstlerische Praxis, die statt mit dem  Schutzmantel der ‚Aura‘ umgebene Objekte kontext orientierte Installationen präsentiert, still umschlichen. Nur sehr zögerlich öffnen sich die Institutions-Türen der jenseits des Autonomie-Konzeptes arbeitenden Kunst. Autonome Kunst, so unglaubwürdig dieses Konzept ist, basiert auf der Annahme eines historischen und sozialen Vakuums. Dies Bedeutungs-Vakuums ist gleichzeitig die Voraussetzung für einen Kontext-Begriff, wie er in limitierender und entpolitisierter Weise anstelle des in den 60er und 70er Jahren (in der Literaturtheorie) entwickelten verwendet wird: Kontext bestimmt Kunst, der Rahmen die Bedeutung – hingewiesen sei hier zur Erklärung nur kurz auf Duchamps Ready Made-Konzept. Dem steht zwar jetzt wieder ein an das historische Modell anschließendes Kontext-Verständnis entgegen, aber der Begriff ist zum unübersichtlichen Sammelbecken geworden.
IV.
‚Kontext‘ wird zugleich als Rahmen, als Gütesiegel, als Produktionsbedingung und als Rezeptionsmodell gehandelt. Zunächst einmal ist die Relevanz des Kontext-Begriffes im Feld der bildenden Kunst keineswegs selbstverständlich. Von der Wortherkunft betrifft ´Kontextualität´ die Analyse von Sprachstrukturen. Sowohl in der marxistischen Methodendiskussion der Literaturwissenschaft als auch in linguistischen Studien ist ‚Kontext‘ ein Schlüsselbegriff, mit dem eine Abkehr von isoliert gesetzten Untersuchungsobjekten bezeichnet wird. Stattdessen steht die Beobachtung des Gegenstandes im Rahmen gesellschaftlicher und sozialer Strukturen. In den 60er Jahren wurde der Begriff ‚Kontext‘ als Metapher für das Begründungsverhältnis zwischen Textuellem und Nicht-Textuellem eingeführt. Jede künstlerische Äußerung ist abhängig von nicht künstlerischen Parametern, die nicht als ‚Text‘ bezeichnet werden können. Kontext war anfangs keine textuelle Kategorie.
V.
In seinem Essay „Kontext-Theorie der Kunst“ formuliert Peter Weibel: „Kontexte wurden wichtiger als Texte. Verfahren der Kodifikation und nicht die Botschaft selbst, Methode der Erforschung und nicht das Gefundene, die Bedingungen der Kultur und nicht die Kultur, das System der Werte und nicht die Werte selbst.“2 Thema dieses Textes von 1973 sind nicht die Künste im allgemeinen oder die bildende Kunst, sondern explizit die Literatur. Wo immer in den 70er Jahren der Kontext-Begriff auftauchte, findet sich der Sprach-Bezug und eine Umlenkung des Kontext-Begriffs in die Text-Kategorie. Eine nahtlose Übertragung jener Bestimmungen auf die bildende Kunst ist, obgleich verführerisch, allerdings nicht möglich. Zwar läßt sich auch für die bildende Kunst von einem Interesse für die ‚Bedingungen‘ über dem der isolierten Erscheinungen sprechen, aber nicht unter dem Motto der „Kodifikation“.
In den letzten Jahren fand ein auffallender Siegeszug des Text-Begriffes3 statt. Die Totalisierung der Sprache findet auf Kosten der Wahrnehmung statt, da jeglicher Wahrnehmungsvorgang auf ‚Lesbarkeit‘ zielt. Auf die bildende Kunst angewandt führt die Bestimmung von Kontext über Text zu Mißverständnissen, da das Paradigma des Textes von Kunstrezeption als Lektüre, von Kunstproduktion als einer Operationalisierung, unter Voraussetzung einer kodisch simulierbaren Welt, ausgeht.
Wird das semiotische Weltbild, das von einer prinzipiellen sprachlichen Disziplinierung spricht, auf die Kunst übertragen, so schließt die entschlüsselungsfreudige Sicht auf die (textuellen) Rezeptionsprozesse den Blick auf die (nicht textuellen) Produktionsbedingungen aus. Ein text-orientierter Blick legt sich flächendeckend über die visuelle Struktur und läßt alles unter der Bedeutungssuche verschwinden. Damit ist lediglich ein Umkehrschluß der traditionellen Bedeutungsentleerung vorgenommen: eine Bedeutungsüberladung, die statt einer tatsächlichen Auseinandersetzung und d.h. einer Handlung eine semiotische Ersatzhandlung und Distanzierung setzt.
VI.
Um auf theoretischer Ebene der Gefahr, Kontext als Entzifferungskategorie zu benutzen, zu entkommen, bedarf es einer Differenzierung. In linguistischen Analysen wird zwischen einem „focal event“ und dem „background“ unterschieden. Der ‚background‘ bildet das Aktionsfeld, auf dem das ‚focal event‘ betrachtet wird4. ‚Kontext‘ entspricht diesem ‚background‘, allerdings unter Betonung der nicht-statischen Qualität. Der background stellt die Bühne, der Kontext stellt die Weisen, wie die background Informationen gebraucht werden. Die Frage ist, wie ‚Kontext‘ als Matrix organisiert und verstanden wird. In den 1920er Jahren entwickelte Michail Bachtin, einer der wichtigsten Theoretiker im Zusammenhang mit Kontext-Theorien, seine „Textologie“5, eine philosophisch-philologische Synthese aller text- orientierten Einzeldisziplinen. ‚Text‘ steht inAblehnung zu Saussures Linguistik. Saussures Modell besagt, daß ein Zeichen des Systems das andere interpretiert, ohne den Rahmen des geschlossenen Systems zu verlassen. Dem setzt Bachtin eine sozio-politisch orientierte Betrachtungsweise entgegen: Zeichen referieren auf eine feststehende Wirklichkeit und  brechen diese zugleich auch auf, d.h. funktionieren und werten sie um. Der Bereich der Ideologie fällt mit dem der Zeichen zusammen6.
Obwohl Bachtins Untersuchungen sich auf die Literatur konzentrieren, sind die Erkenntnisse auch in Hinblick auf die bildende Kunst zu lesen. „Der ‚vorgestellte‘ Text. Wenn man ‚Text‘ weit auffaßt – als jeglichen kohärenten Zeichenkomplex, dann hat es auch die Kunstwissenschaft … mit Texten zu tun (mit Kunstwerken). Gedanken über Gedanken, Erlebnisse über Erlebnisse, Wörter über Wörter, Texte über Texte.“7
‚Text‘ in Bachtins Schriften ist keine über Lesbarkeit definierte Kategorie, sondern – und das ist entscheidend – als Interaktionsform eine Manifestation sozialer Verhaltenkodes: „Die menschliche Handlung ist ein potentieller Text und kann (als menschliche Handlung und nicht als physischer Vorgang) nur im dialogischen Kontext seiner Zeit (als Replik, als Sinnposition, als System von Motiven) verstanden werden.“8
In seinen frühen Schriften bezeichnet Bachtin ‚Sprache‘ nicht als ein systematisches Zeichensystem, sondern als Handlung – Sprache ist Ausformung des Klassenkampfes. Die einzelnen Sprachgesten, Sprachäußerungen sind nicht als einzelne, isolierte Zeichen kodierbar, sondern immer mehrschichtig, sind Produkt sozialer Zusammenhänge. In jeder Äußerung sprechen mehrere soziale Parteien, und politische Verhältnisse werden durch Sprachhandlung bestimmt. ‚Sprache‘ ist eine übergreifende Kategorie: „Jedes Zeichensystem (d.h. jede Sprache), auf welch beschränktes Kollektiv seine Bedingtheit sich auch stützen mag, kann prinzipiell immer dechiffriert, d.h. übertragen werden auf andere Zeichensysteme (auf andere Sprachen); folglich gibt es eine allgemeine Logik der Zeichensysteme, eine potentielle einheitliche Sprache der Sprachen (die natürlich niemals eine konkrete einzelne Sprache werden kann). Aber der Text (im Unterschied zur  Sprache als einem System von Mitteln) kann niemals endgültig übersetzt werden, da es keinen potentiellen  Text von Texten gibt.“9
Unter ‚Bedingtheit‘ („uslovnost“) versteht Bachtin eine Systemabhängigkeit, die Relativität eines jeden Phänomens als Element einer oder mehrerer Ordnungen. „Aufstand des Heldens gegen seine literarische Abgeschlossenheit“ formulierte Bachtin die notwendige Distanz für die verschiedenen Dialoge innerhalb eines Werkes und darüber hinausgehende mit dem Autor10. ‚Bedingtheit‘ ist nicht gleichzusetzen mit ‚Kontext‘, sondern mit ‚background‘, da Kontext als etwas aktuell zu Schaffendes, als eine fragende oder erwidernde „Umrahmung“ verstanden wird.
‚Kontext‘ als ein aus der Reaktion entstandener Text ist ein zweiter Text – Text und Kontext zusammen ergeben eine „dialogische Struktur“, eine der Zentralkategorien in Bachtins Theorie. Anhand dieses Prinzips läßt sich die akutelle Relevanz des Konzept-Begriffs weiter bestimmen.
Unter dem Namen Volosinov, einem seiner vielen Pseudonyme, betont Bachtin: „Jedes Verstehen ist dialogisch“ – da es eine Art Übersetzung der Fremd- in Eigenrede, in einen aktiven Kontext ist. Erklären dagegen ist monologisch11. ‚Dialogisch‘ ist gleich Offenheit, Unabgeschlossenheit und Vielstimmigkeit, während ‚monologisch‘ autoritär und dogmatisch ist. Nur innerhalb einer dialogischen Struktur kann ein Zweiter berücksichtigt werden, während die monologische, geschlossene Struktur statt Beteiligte
passive Objekte sucht und diese zugleich determiniert. Und eine Form des Dialoges entsteht durch Schaffen des Kontextes. Diese dialogische Struktur findet in jeder ‚Sprache‘ statt.
Bachtins Ausführungen können auch als Ausgangspunkt einer Kritik ‚didaktischer‘ Kunst genommen werden. Zum einen wird in künstlerischen Erziehungsversuchen die Vielschichtigkeit einer ‚Sprache‘ limitiert, indem von nur einer möglichen Lesbarkeit ausgegangen wird. Zum anderen ist die Struktur solcher Kunstwerke
in sich geschlossen und monologisch. Der Schulsituation vergleichbar, werden Kontexte nicht befragt und aufgrund einer ‚Offenheit‘ interessant, sondern als background – der Ort des Unterrichtens – instrumentalisiert.
VII.
Auf künstlerische Arbeiten angewandt deckt der Kontext-Begriff zwei Bereiche ab: die Bühne, d.h. den Rahmen der Produktion und Präsentation, und das Ereignis selbst. In beiden Fällen kann ‚Kontext‘ in Anschluß an Bachtins Überlegungen als ein interaktiv aufrechterhaltenes, zeit-gebundenes Phänomen bestimmt werden. Welcher Art sind die Konsequenzen dieses Kontext-Konzeptes für die Präsentation, die Produktion und die Wirkungsweise von Kunst? Im Beispiel von Duchamps ready-mades bestimmt die Kunstinstitution die Objekte als Werke der Kunst. Hier wird die Unterteilung in background und Kontext entscheidend, denn die Institution ist eben nicht als Kontext im jetzt bestimmten Verständnis zu bezeichnen. Am Beispiel kontext-orientierter Kunst ist Kontext Teil der Arbeit, und zwar des Konzeptes, der Präsentation und der Dokumentation. Damit ist eine spezifische Herangehensweise künstlerischer Praxis angesprochen: sich zunächst über den Ort, an dem die Ausstellung stattfindet, kundig zu machen. Die Frage, was und auch warum dort ausgestellt wird, umfaßt geographische bis kulturelle Bedingtheiten.
Kunst und Kultur sind scharf zu trennende Erscheinungen, die nicht gleichgesetzt werden dürfen, womit aber nicht eine thematische Auseinandersetzung ausgeschlossen ist. Zu den wohl wichtigsten Künstlern zählen hier Michael Asher und Lothar Baumgarten. Vereinfacht kategorisiert zielt Asher hauptsächlich auf institutionelle, Baumgarten auf kulturelle Kontexte. In Baumgartens Ausstellung „Carbon“ in Los Angeles (1990) z.B. waren die Namen der Eisenbahnengesellschaften zentrales Thema: Anhand der Namen, die oft indianischen Ursprungs sind, läßt sich die Besiedlungs-Geschichte der Staaten nachzeichnen. Namen, die auf vergangene Kulturen hinweisen, aber ebenso auf das Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen; Namen als Träger von Kultur. Baumgarten stellt die Namen und Worte als erlesbare Wirklichkeit in den Raum, darin impliziert die Frage, wer über die von der Schrift getragene Bedeutung und die damit einhergehende interpretative Ordnung bestimmt. Die Frage gilt ebenso für die Zugänglichkeit der  Ausstellungsorte – für Aussteller und Besucher.
Auf der Ebene der Dokumentation betrifft diese veränderte künstlerische Praxis die Print-Produkte. Der Gestaltung von Massenmedien folgend ist die traditionelle Ausstellungs Dokumentation in Form von schwergewichtigen Handcover-Katalogen zugunsten von Büchern, Zeitschriften und gehefteten Heften ins
Abseits gedrängt worden. Mit nachlassendem Widerstand der Institutionen nähert sich dies jetzt der Kiosk-Ebene. Seit kurzer Zeit wird beispielsweise während laufender Ausstellungen ein „Newsletter“ erstellt, der aktuelle Nachrichten auf billigem Papier in handlichem Format verteilt.
Ein weiteres Merkmal und zugleich ein Hindernis für Institutions Kompatibilität stellt die Ortsbezogenheit kontext-orientierter Kunst. Während Duchamps ready-mades zwar zeit-, aber nicht ortsgebunden entstanden (das Design des handelsüblichen Flaschentrockners hat sich seither stark verändert), thematisieren kontext-orientierte Arbeiten gerade den Ort:  nicht verrückbare Installationen wie z.B. Krzyßtof Wodiczkos Licht
Projektionen auf Gebäude im Stadtraum, die thematisch auf die Projektionsfläche bezogen sind. Oder  Arbeiten, die Kunst-Räume bzw. die damit einhergehenden Bedingungen thematisieren, z.b. die Frage stellen, was überhaupt in Kunst-Institutionen (noch oder wieder?) möglich ist. Nicht möglich jedenfalls ist ein zwangloses Zirkulieren dieser Kunst als Tauschprodukte unter Galeristen und Sammlern. Vom background getrennt werden die kontextuellen Parameter entweder unverständlich oder selbst zum background, womit der Handlungsraum verloren geht.
VIII.
Die anfangs aufgestellte Behauptung, daß Kunst-Institutionen tendenziell bemüht sind, ästhetische Formbemühungen auszuschließen, die auf explizitem Einbezug des Kontextes – dies wohlmöglich gekoppelt  mit Nützlichkeits-Kriterien, wie z.B. Joseph Beuys‘ Renaturalisierungsvorschlag für die Hamburger Spülfelder basieren, bedarf weiterer Konkretisierung.
Offensichtlich ist Kontext ein über den jeweiligen Gebrauch bestimmtes Wort, das als Phänomen seine Konturen permanent verändert. Konstant bleibt jedoch die Ebene der Partizipation. Kontext als Handlungsraum bedeutet, nicht lediglich Hans Haacke mäßig Kritikpunkte aufzudecken, sondern diesem ‚finden‘ auch ein ‚tun‘, und zwar mit der eigenen Stimme, nicht über Zitate, hinzuzufügen. Was für die Ebene der Arbeitsmethode geklärt wurde, gilt ebenso aber auch für die Rezeption, für die Beziehung Werk Konsument.
Wie bereits anfangs angedeutet kommt dem Werk-Begriff in der Rezeptionsästhetik große Bedeutung zu. Der  Werk-Begriff ist die Kriterienkiste der Künste. Hier ist auch auf die Behauptung eines Zensurgriffs der Institutionen zurückzukommen. Mit der Bevorzugung ‚autonomer Kunstwerke‘ wird die traditionelle Werkkategorie – als einer Rahmenvorgabe – geschützt. Beuys‚ Vorschlag, als künstlerischer Beitrag die vergifteten Spülfelder über spezielle Bepflanzungen zu beleben, stieß auf den Widerstand sowohl der Kunstinstitution als auch der Politiker. Der Wirkungsrahmen von Beuys‘ Arbeit war erstens nicht mehr auf einen ästhetischen reduziert und zweitens nicht mehr begrenzt, womit Zweifel an der Bezeichnung und d.h. auch an der Zuständigkeit entstanden, und ging drittens über die Demonstration einer ‚Haltung‘ hinaus in die Tat. Im Werkbegriff werden verschiedene Werte mittransportiert, die sämtliche auf eine Vorabfestlegung zielen. Mit dem Begriff geht eine behauptete Abwesenheit von Funktion und Anwesenheit von ‚Intention‘ einher. Das ‚autonome Kunstwerk‘ ist ein monologisches. Donald Judds Objekte unterhalten sich höchstens untereinander; für durch Betrachter und Umgebung eingebrachten Aspekte ist keine Gesprächsmöglichkeit vorgesehen. Für die veränderte künstlerische Praxis ist keine dieser auf Abgeschlossenheit zielenden Angaben zutreffend, weswegen seit den 60er Jahren Beschreibungs-Alternativen gesucht werden. Umberto Eco schlug den Terminus „offenes Kunstwerk„12 vor. In den 60er Jahren beschrieb Eco Kunstwerke unter dem Aspekt eines „offenen Systems“. Der Begriff „offenes Kunstwerk“ entspricht nicht einem wertenden Grundsatz, sondern verabschiedet die Reste eines KunstautonomieGlaubens. ‚Offen‘ ist eine „explikative Kategorie“, eine „operative Tendenz„13, die die Struktur der Rezeptionsbeziehung angibt. ‚Offen‘ bezieht sich auf das Zusammenspiel von Werk und Rezipient/Interpret:  „Die Poetik des ‚offenen‘ Kunstwerkes strebt, wie Pousseur sagt, danach, im Interpreten ‚Akte bewußter Freiheit‘ hervorzurufen, ihn zum aktiven Zentrum eines Netzwerkes von unausschöpfbaren Beziehungen zu machen (…).“14
Anhand von Werken der Musik, der Literatur und der bildenden Kunst exemplifiziert, bestimmt Eco ‚offene Kunstwerke‘ als in der Interpretationsstruktur unabgeschlossene Werke, die vom Betrachter/Interpreten – durch „ständige Neuknüpfungen von inneren Beziehungen“15 – mitkonstituiert werden. Damit ist keineswegs eine materiell unabgeschlossene oder unvollständige Form/Ausführung behauptet – es ist eine theoretische Kategorie, die im Zusammenhang mit der künstlerischen Präsentationsform ‚Installation‘ erneut zu diskutieren ist.
‚Offenheit‘ besagt ähnliches wie Bachtins ‚dialogische Struktur‘, nämlich die Produktion eines ‚Neuen‘, etwas, das nicht mehr in der Kompetenz des Autors, sondern des Interpreten/Betrachters liegt. Und seinerseits wieder für weitere Interpretationen offen ist. ‚Publikum‘ wird so zum Akteur. Beide Kategorien zielen auf die Frage, was und wie sich die Beziehungen zwischen Werk und Betrachter konstituieren – mit einer gravierenden Differenz: ‚Offenheit‘ setzt als background einen neutralen Raum, eine in sich geschlossene Situation. ‚Kontext‘ setzt einen permanent variablen Rahmen, der von sozio-politischen Parametern bis zu Daten der unmittelbaren Umgebung der Betrachter/Werk-Situation reicht. Über beide Kategorien wird von einem Veränderungspotential durch Kunstwerke ausgegangen – ein Anspruch, der in kontextorientierten Installationen leitend ist. Veränderungen, die in reziproker Beeinflussung von Kunst und Kontext entstehen. Kann dann Kunst vielleicht auch Kontext beeinflussen? Beide Kategorien treffen sich an mehreren Punkten und vermögen zusammengenommen den kaum mehr anwendbaren Begriff ‚Werk‘ zu aktualisieren. Eco führt eine weitere Kategorie, das „Kunstwerk in Bewegung“, ein. Damit sind nicht nur kinetische Kunstobjekte, Werke aus der Musik und aus der Literatur (Mallarmes „Livre“) bezeichnet, sondern ebenso Werke des Industriedesign: von „umbaubaren Lampen“ bis zu „Sessel mit der Fähigkeit zu Verwandlungen von unzweifelbarer stilistischer Dignität, die es dem heutigen Menschen gestatten, die Formen, unter denen er lebt, nach dem eigenen Geschmack und den eigenen Bedürfnissen herzustellen und anzuordnen.“16
Auffallend ist die entfallene Trennung zwischen Produkten der Hoch- und der Alltagskultur. Wichtiger noch aber ist die Feststellung, daß diese „Kunstwerke in Bewegung“ „Sensibilität und Imagination ausbilden wollen, ohne Anspruch auf Wertung als künstlerisches Surrogat der Erkenntnis.“17 Beide Kategorien, ‚Kontext‘ und ‚Offenheit‘, sind keine auf Erkenntnisfähigkeit bauenden Ansprüche, noch weniger wird dadurch die Fähigkeit zur Wahrheitsfindung behauptet. Grundlage der mit den Kategorien einhergehenden Werk-Bestimmung ist die Kategorie der Partizipation, die Dualismen wie Sprecher/Hörer, Werk/Betrachter, Produktion/Rezeption im Ereignis und für den Moment des Dialogs überwindet18. Die Kontext-Beeinflussung wäre dann die Aufhebung des Zuschauer Traktes und der Bühne. Am Beispiel von Bertold Brechts Technik des epischen Theaters bestimmt Eco ‚Offenheit‘ als eine auf Publikums-Beteiligung beruhende Kategorie: „Die Offenheit wird zum Instrument revolutionärer Pädagogik.“19
VII.
Die mit ‚Installation‚ bezeichnete künstlerische Praxis bedarf näherer Erklärungen. ‚Installation‘ bezeichnet Arbeiten, die statt in sich abgeschlossener Werke offene Situationen präsentieren. Installationen bestehen aus einem Ensemble von Dingen – d.h. nicht nur aus Gegenständen, sondern auch aus Vorgefundenem, das zitierend eingebunden wird. Als nicht Einzelobjekt-orientierte Arbeits- und Präsentationsweise sind weniger die räumlich-physischen als die kontextuellen, d.h. dialogischen Begrenzungen entscheidend. Der architektonische bis historische Umraum wird einbezogen, visuelle und textuelle Referenzen kombiniert. Mit dieser Form künstlerischer Arbeit werden die institutionell gesetzten Grenzen überschritten. Ausstellungen werden nicht mehr durch Institutionsmauern begrenzt. Die werden zu Grenznähten. Vernäht werden in Installationen raum- und materialübergreifende Informationen im Rahmen und im Moment der Rezeption. Die Eckpfosten der Rahmenbegrenzung ergeben sich aus der Bestimmung der Relation zwischen dem ästhetischen und dem Gesellschaftlichen.
VIII.
An diesem Punkt wäre auch eine Diskussion der ‚Kunst im ôffentlichen Raum‚-Projekte anzusetzen. ‚Kontext‘ wird hier allzu leicht als Kulisse verwendet, die die Marginalität und kulturelle Isolation der Kunst aufheben soll. Die andererseits den Mangel an Themen wettmacht und den Bezug zwischen Kunstwerk und Umgebung lediglich per Plazierung herstellt. ‚Kontext‘ hat dort Stellvertreterfunktion für Publikum. Was dem autonomen Kunstwerk aufgrund seiner Identifikationsangebot-Verweigerung an Publikum verloren geht, wird über aufregende oder außergewöhnliche Surroundings zu ergattern versucht. Nur ist es kaum möglich, einen spektakulären Ort mit Kunstwerken anzureichern, dem bereits Vorhandenen noch etwas hinzuzufügen und dabei ungebrochen den Kunstwerk-Status aufrechterhalten zu wollen. Zudem findet auch hier wieder eine Verwechslung von ‚Kontext‘ und ‚background‘ statt.
Im Ausstellungsprojekt „Übungsgelände„, einem verlassenen Militärgebiet in Suhl, Ostdeutschland, wurde in „politischer Blick auf Kunstwerke“ probiert. Wie kann ein ‚Kunstwerk‘ diese Situation von „Umbruch“ und „Aufschwung Ost“, von „Abschluß“ und „Neuanfang“, die politisch, historisch und architektonisch auf das Höchste aufgeladen ist, etwas Exemplarisches hinzufügen? „Was man erwarten kann, sind Angebote, Vorschläge – auch einander entgegengesetzte – aber keine Lösungen (…)“20 heißt es in der Ausstellungsbroschüre. Was vielleicht erwartet werden kann, ist eben gerade der ‚triviale‘ Akt einer Identifikation statt einer Behauptung von Authentizität. „Werke statt Worte“ stand auf Thomas Schüttes kleinen Kisten für die blauen Objekt, die wie Tränen aussehen.
Der Kontext in solchen Situationen ist das Interaktionspotential, die Dialog-Möglichkeit, die in Museen so leicht nicht zugänglich ist. Aber die Chance von kontextbezogener Kunst ist nicht nur ein Aufwerfen von Fragen – das liegt auch im Möglichkeitsbereich autonomer Kunstwerke. Die Chance ist ein Eröffnen von Handlungsräumen – und das ist eine Frage der Verantwortung. Besonders reich an Beispielen für kulissenhafte Kontextkunst war die Ausstellung „Sonsbeek ’93“ in Arnheim (Niederlande)21, die zum größten Teil dekontextualisierte Kunstwerke auf bedeutungsvollen Bühnen mit Anspruch auf weitreichende Kontexte präsentierte; Kunstwerke, die nicht den Ort thematisierten, sondern die Bedeutungsaufladung zur „internen Umkodierung“ ihres eigentlich heilig-autonomen Status benutzen. ‚Sonsbeek ’93‘ stellte programmatisch eine Anbindung an die engagierten 70er Jahre in den Mittelpunkt. Die Kunst sollte raus aus dem Institutionsgetto, rein in die Stadt. Die Bevölkerung reagierte darauf mit Unverständnis und Vandalismus. Das Dialogangebot funktionierte nur bei wenigen Beiträgen, da es meist über beigefügte monologische Texterklärungen bereit stand und den Eindruck von Beliebigkeit und Anmaßung hinterließ. Allen Ruppersberg z.B. ließ 200 Bücher – die von den Opfern der Schlacht um Arnheim (1944) gelesen wurden (wahrscheinlich) neudrucken und präsentierte sie auf dem Friedhof. Andere Arbeiten waren derart nachlässig umgesetzt, daß es zu Interessenskonflikten kam, z.B. bei Remy Zauggs Brückeninstallation: die Schriftzeichen leuchteten derartig hell,daß sie die nächtliche Schifffahrt erheblich störten.
Arnheim, das war mehr eine Kulisse als ein tatsächliches Thema bzw. Kommunikationsangebot. Einige Beiträge erinnern zwar an das Prinzip, auf politische oder/und soziale Geschehnisse zu reagieren, geben sich dann aber auf eine Weise mit Gegenständen zufrieden, die beim Reproduzieren von bereits Vorhandenem steckenbleiben. Eine Kommunikation dreht sich, wenn es denn stattfindet, im Kreis. Damit soll keine Innovation eingefordert werden, sondern ein Aktivieren von Aspekten, von produktiven Verbindungen, betont werden. Ein Aktivieren, daß nicht allein im Verweisen – auf Besonderheiten, per Interview auf andere Meinungen etc. – bestehen kann. Die Frage nach dem Machbaren wird so nämlich leicht mit dem Regisseurposten beantwortet: ein gutes Casting, eine perfekte Location und ein paar attraktive Hauptdarsteller in zwei paralellaufende, unkomplexe Stories eingeflochten.
Eine der erwähnenswerten Ausnahmen bildet in Soensbek Andreas Siekmanns Platzgestaltung. Einen kaum genutzten Platz sperrte Siekmann mit einem Bretterzaun ab, plazierte 151 Zeichnungen auf der Innenseite und montierte kleine Gucklöcher außen auf den Zaun. Die Zeichnungen erzählen von verschiedenen Möglichkeiten der Platzbenutzung: Platz der Selbstgestaltung, der Gartenarbeit, der Teenies (dem Gespräche mit Teenies über ihre Platz-Wünsche vorausgingen), der Mitarbeiter des Planungsbüros, der Verschwendung. Die insgesamt 7 Vorschläge ließen den realen Platz zur Projektionsfläche werden.
IX.
Interne Umkodierung„22, damit bezeichnet Jurij M. Lotman23 einen speziellen Mechanismus der Sinnverleihung: das vorgegebenes Material ist die primäre Ebene, das durch interne Umkodierung zum „sekundären Modell“ umstrukturiert und sinntragend wird. Was Lotman für den Text-Begriff formuliert, findet auf ‚Kunst im öffentlichen Raum‚-Arbeiten eine veränderte Anwendung: Wird Kontext (als Dialogpotential) zum sekundären Modell, als Material und ‚focal event‘ für Kunstwerke verwendet, dann wird die Kategorie ‚interner Kontext‘, d.h. die im Prozeß entstehenden, fortdauernden und der Veränderung unterliegenden Faktoren, die sich aus dialogischen Strukturen ergeben, ausgeschlossen. Statt daß die Arbeit zum focal event wird, verliert sie sich im background – was weiter vielleicht nicht schlimm wäre, nur daß damit die Konsequenz auch gezogen werden will: Wenn der Kontext (als Ort und Dialogpotential) ‚Material’genug ist, bedarf es auch keiner künstlerischen Arbeit mehr, um darauf aufmerksam zu machen. Ein Kreuz auf dem Stadtplan würde dann reichen. Wenn das Kontext-Konzept nur auf einen fancy Ort reduziert wird, kann die interne Umkodierung die Beliebigkeit der Arbeiten auch nicht auffangen. Statt daß Kontext zum dialogischen Ereignis wird, läuft dann die Anbindung auf eine dialogische Nullbeziehung hinaus.
Ein letztes Beispiel ist das Projekt „Unite“, eine Ausstellung im Le Corbusier-Bau in Firminy, einer kleinen Industriestadt nahe Lyon24. Anders als Le Corbusiers „Unite“ in Marseille wurde dies Gebäude nicht in Eigentumswohnungen umgewandelt, sondern ist nach wie vor sozialer Wohnungsbau. Die siebte Etage der (seit 10 Jahren absichtlich) leerstehenden Nordhälfte, d.h. 29 Appartments, wurden für die Dauer von vier Monaten zu Ausstellungsorten. An diesem kulturhistorisch bedeutsamen Ort wurde die ganze Begriffsverwirrung des Kontext-Konzeptes deutlich. ‚Kontext‘ war dort die Ortsbestimmung, der Anspruch und das Thema zugleich. Mehr als 7 KünstlerInnen fiel die Zelt-Metapher ein, andere recherchierten was das Zeug hält und weitere  entschieden sich für hilflose Metaphern: Kate Ericson & Mel Ziegler wollten eine Putzmittelfirma von einem neuen Etiketten-Layout (mit Fotografien der Unite) überzeugen. Mark Dion präsentiert ein Stilleben toter Fliegen, die er fleißig im Haus zusammengesammelt und im Appartment der toten Nordhälfte arrangierte. Tania Mouraud sandbliest Landstreicher-Zeichen auf die Fenster der 7. Etage (!) und offeriert Croissants auf dem Tisch.
Eine produktive Verbindung präsentierten Tom Burr und Christian Philipp Müller. Stauraummangel und Hellhörigkeit sind die Themen. Tom Burr plazierte seine Möbel zugleich als Vorschläge und als ‚Bewohner‘ der Räume. Müller entfloh dem Ort: er schlug einen Lärmschutz vor und gestaltete mit verändertem Licht, cremefarbenen Wänden und dem raumhohen Lärmschutzvorhang Le Corbusiers immergleiche  Appartmentbox in einen bürgerlichen Salon um. Beide flankieren ihre Arbeiten mit ausführlichen Text Beiträgen. Wer viel recherchiert, will sein Wissen mitteilen.
In den wenigen Installationen in Firminy, die nicht auf dem Glatteis des Ortes ausgerutscht sind, war der Ort der Ausgangspunkt, mit dem sich die Arbeiten dialogisch beschäftigten. ‚Kontext‘ ist in diesen Installationen tatsächlich als operative Kategorie bestimmt, wodurch ein Weltbild in kommunikative Strukturen übertragen wird. Damit sind nicht all die Fluchten in Video-Bilder gemeint, sondern die produktive Verbindung zwischen Ort und Arbeit, wie es z.B. in Fareed Armalys Beitrag zu sehen war. Er radierte alles typische des Unite Appartments aus, entfernte die Treppe, verhängte das Fenster, verwandelte den Raum in eine Kreidetafel (wie sie in jedem Kinderzimmer dort zu finden sind) und baute ein Mischpult als Zutrittsbarriere auf (Töne wie Verkehr, Natur, Sex etc.). Anders als bei Müller wird hier nicht nur ausgeblendet, sondern besteht das Angebot zur neuen Zusammensetzung.  Fareed Armalys Beitrag ist ein Mikrokosmos dessen, was hier möglich war.
X.
Kontext ist nicht nur, wie es die Linguistik sieht, ein vorhandener Rahmen, der ein Ereignis umgibt und Quellen für die Auslegung angibt. Bachtin folgend ist Kontext der zweite Text, der durch die aktuelle Situation entsteht und als Dialog Veränderungen unterliegt. Jede Antwort beeinflußt den Fortgang des Dialogs, wozu es allerdings der Grundbedingung einer Stellungsnahme bedarf. Wird mit den kontext- orientierten Installationen allerdings nur eine Haltung bewiesen statt einer Handlung vollzogen, so kann das ‚focal event‘ tatsächlich nur die Auslegung, nicht der eröffnete Handlungsraum sein. Die Scheu vor Verbindlichkeiten verhindert dann den Dialog mit dem Ort und ein Dialogangebot auf der Wirkungsebene mit den Betrachtern. Mit den Bewohnern. Statt das Seil zwischen ästhetischem und Gesellschaftlichen zu spannen, wurden in Firminy die meisten Appartments in weiße Galerieräume verwandelt, die Tapeten überstrichen und die möglichen Wünsche und Identifikationsangebote in Monitorräume verlagert. Die Fernseher hatten den Dialog anzubieten – ist das der Schritt, der zur Entwicklung einer veränderten künstlerischen  Arbeitsmethode führt, die auf die Herausforderung der Massenmedien reagiert? Bedarf es dazu eines bedeutungsbeladenen backgrounds?
Wenn der Rahmen einer Ausstellung offen gehalten wird, sich durch Kontext-Orientierung wesentlich über die Teilnahme der Besucher bestimmt, dann verändert jede Teilnahme die Situation für die nächsten Teilnehmer. Wenn der Raum, in dem künstlerische Praxis stattfindet, tatsächlich der Kontext, und nicht ein background ist, dann findet eine Bestimmung der Handlung statt – nicht eine Manifestation von Traditionen. Dann bestimmen die Beteiligten den Rahmen mit. In einem Dialog ist das letzte Wort nie gesprochen, da es immer eine Replikmöglichkeit gibt.
Kontext-orientierte Kunst wird leicht mit der Aufforderung zum Didaktisieren verwechselt. In einer didaktischen Herangehensweise bleibt das letzte Wort allerdings immer in der ‚Lehrerhand‘ – das letzte Wort als monologische Feststellung, als autoritärer Akt der Machtausübung. Kontextorientierte Handlung setzt dagegen das dialogische Wort, das neue Wörter provoziert und einen Korridor der Stimmen anzettelt.
XI.
Kontext entsteht jeweils aktuell und kann kein fehlendes Kommunikationsangebot ersetzen. Kontext kann nicht mehr als Stempel für Kunststatus-Garantie fungieren, da darüber hintenherum die überkommene Trennung in Hoch- und Trivialkultur mitgeführt wird. Kontext kann auch nicht Legitimation für Kunstproduktion sein, zumal mit dem Begriff ein politischer Anspruch einhergeht. Erst in einer Auseinandersetzung mit dem Ort und den Zuständen, die über das Feiern von Heiligkeiten oder dem Reproduzieren von Bestehendem hinausgeht, kann von einer kontext-orientierten Kunst gesprochen werden. Ansonsten handelt es sich um Spielereien mit dem background.
‚Kontext‘ ist der Raum, der die Handlungs-Möglichkeiten bestimmt – und diese wiederum umgekehrt den Kontext verändern. Gleichgültig, ob künstlerische Praxis in Institutionen/Galerien oder in Stadträumen präsentiert wird, in jedem Fall ist es der Kontext, der zum Prüfstein für die Arbeiten wird. Kontext ist dabei keineswegs eine über räumlich-physische Faktoren zu bestimmende Kategorie – Kontext sind auch die sozialen, ökonomischen, gesellschaftlichen Daten. Über eine Ausstellung einen radikalen Wechsel in der Kulturpolitik publik zu machen, wie es in Firminy geschehen ist, gehört ebenso zum Kontext. Nach 10 Jahren planmäßiger Verrottungsstrategie des Le Corbusier Gebäudes ist mit der Ausstellung der erste Schritt in Richtung ‚Denkmalschutz‘ erlaubt worden. Um es noch einmal zu betonen: Kontext ist keine Lesbarkeits-Kategorie, die auf Bedeutungssuche geht, sondern eine auf kommunikativem Austausch und d.h. auf (Sprach-)Handlung basierende. ‚Kontext‘, das ist das eigentliche Ereignis.
Findet eine Reduzierung auf ästhetische Parameter, dabei gesellschaftliche Aspekte ausschließend, statt, so entsteht ein kunstimmanenter Monolog. Findet eine Anbindung an den Kontext auf einer textuellen Ebene statt, so dominiert die Bedeutungs-Suche und es entsteht eine Schul-ähnliche Situation.
Wenn Stephan Huber in Suhl sein Repertoire leerer Werkzeugkisten auspackt und arrangiert, in einem leeren Lagerschuppen, dann hat er die Frage, was und warum dort ausgestellt wird, schlicht umschlichen. Wenn Mark Dion zwei Vitrinen im Bronbeek Museum/Soensbek aufstellt, dann hat er das Gesprächsangebot des Ortes angenommen, ordentlich recherchiert und seinem Interesse, die Präsentation kulturgeschichtlicher Objekte zu verfolgen, eine weitere Station hinzugefügt – mehr nicht. Ein Interesse übrigens, aus dem z.B. Lothar Baumgarten 1969 die Fotoserie „Unsettled Objects“(2) entwickelte, darin aber die Kategorisierungen nicht affirmierend, sondern befragend.
XII.
Als Handlungs- und Arbeitskategorie geht mit ‚Kontext‘ ein gesellschaftspolitischer Anspruch einher: Statt folgenloser bis problemvoller Aneignung von Kiosk- und Kunstprodukten steht das Prinzip der Partizipation. In Hinblick auf die Frage, wie background-Information zum Produzieren von Aktivität gebraucht wird, ist die Bestimmung von Kontext als Handlung (im Sinne von Bachtins Kategorie ‚Sprache‘) entscheidend. Der background ist die Grundbeziehung zwischen Betrachter und Werk, Werk und Wirklichkeit, und ermöglicht – in Abgrenzung – die Bezeichnung ‚Kunst‘. Bachtins „dialogische Struktur“ folgend, sind ‚Kontext‘ und ‚Werk‘ nicht zu trennende Kategorien. Kontext wird interaktiv organisiert und verstanden. Im Denkgerüst des Dialogs rufen Gespräche Kontext hervor und stellen Kontext für weitere Gespräche. Kontext ist ein interaktivkonstituierter Modus des Gebrauchs.
An dieser Stelle ist auch auf die Frage, ob Kunst den Kontext verändern kann, zurückzukommen. Sicherlich können Kunstinstitutionen kaum durch Künstler oder Kunstwerke maßgeblich verändert werden. Zwar konnten/können mehr oder minder formaleVeränderungen ausgelöst werden, wie z.B. die „white cube“25 Präsentationsweise, aber die mit der Institution Kunst einhergehenden Faktoren wie Organisationsstrukturen, die ‚Schwellenangst‘ und ökonomisch motivierte Entscheidungen unterliegen nicht dem Einfluß eines Künstlers. Insofern Kontext als eine Handlungs-Kategorie bestimmt worden ist, besteht allerdings eine reziproke Beeinflussung.
Künstlerische Praxis ist auch eine Arbeit an den Bedingungen der Produktion, Präsentation und Distribution von Kunst. Wenn Kunstwerke nicht mehr über ‚Intentionen‘, sondern über Gebrauchsweisen bestimmt werden, wird ein Einfluß auf Kulturproduktionen möglich. MTV und die Zeitung ‚Interview‘, beides von Andy Warhol gegründete Massenprodukte, sind erste Beispiele. Im Bild des ‚Gesprächs‘ formuliert, folgen auf veränderte Themen, Argumente und Argumentationsweisen veränderte Antworten und Handlungen. Die über den Kontext-Begriff zu beschreibende Kunst initiiert Dialoge nicht nur mit dem Betrachter, sondern auch mit den Institutionen. Leitfaden der Dialoge ist ein Handlungsangebot, das sich allerdings nicht semiotisch entschlüsseln läßt, sondern über die dialogische Struktur wirksam wird. Von Kontext-Kunst-Konzepten können weder für städtische noch für institutionelle oder gar politische Situationen Lösungen erwartet werden – nicht mehr und nicht weniger als von ‚autonomen Kunstwerken‘. Allerdings können die Kunstwerke den Schritt konkrete Vorschläge ausarbeiten. Vorschläge, die im Feld der Kunst, getroffen von Künstlern, entstehen, und keine stadtplanerischen, strukturellen oder revolutionären Taten darstellen. Oder noch einen Schritt weiter das Kontext-Konzept treibend, tatsächlich keine Kunstwerke im traditionellen Sinn liefern, sondern Kulturarbeit leisten.

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1 s. Sabine B. Vogel, ARTIS 3/1993.
2 Peter Weibel, Kritik der Kunst, Kunst der Kritik, WienMuenchen 1973.
3 s. hierzu: Text-Welt, Hg. Stefan Hesper, Thomas Regehly u.a., Parabel, Bd. 16, Gießen 1993
4 s. Erving Goffmann, Frame Analysis: An Essay on the Organisation of Experience, New York 1974.
5  s. hierzu Michail Bachtin, Das Problem des Textes in der Linguistik, Philologie und in anderen Humanwissenschaften, in: Poetica 91.
6 s. hierzu Volosinov (Bachtin), Marxismus und Sprachphilosophie, Frankfurt/Berlin/Wien 1975, Original Leningrad 1929.
7 Bachtin, Das Problem des Textes in der Linguistik, S. 438.
8 ebenda, S. 450.
9 ebenda, S. 448.
10 Bachtin, Probleme der Poetik Dostrojewskis, Leningrad 1929, dt. Muenchen 1972.
11 „Beim Erklären gibt es nur ein Bewußtsein, ein Subjekt; beim Verstehen zwei Bewußtseine, zwei Subjekte. Zum Objekt kann es keine dialogische Beziehung geben, deshalb entbehrt die Erklärung dialogischer Momente (außer dem formal rhetorischen). Verstehen ist immer in gewissem Grad dialogisch.“ (Bachtin, S. 456).
12  Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M. 1977. Vergleiche zur Rezeptionsaesthetik auch: Hans Robert Jauß, Wolfgang Iser, Manfred Fuhrmann.
13 ebenda, S.12.
14  ebenda, S. 31.
15  ebenda, S. 57.
16  ebenda, S.43.
17  ebenda, S.46.
18  s. hierzu Dell Hymes, Models of the Interaction of Language and Social Life, in: Gumperz and Hymes, Directions in Sociolinguistics, New York 1972.
19  Eco, S.41.
20  Die Ausstellung fand im Juli in Suhl statt, organisiert von Georg Bussmann und dem Kulturverein „Übungsgelände“ e.V. Suhl; u.a. Droese, Gerz, Herold, Stefan Huber, Kippenberger, Schütte.
21  Seit 1949 werden in Sonsbeek Ausstellungen zur zeitgenössischen Kunst veranstaltet. Dieses Jahr waren über 40KünstlerInnen eingeladen, u.a. Michael Asher, Tom Burr, Alighiero e Boetti, Mark Dion, Stephan Dillemuth, Kate Ericson & Mel Ziegler, Mike Kelley, Keith Piper, Andreas Siekmann, Lawrence Weiner, Remy Zaug.
22  vgl. J.M. Lotman, Text und Funktion, in: P.V. Hima (Hg), Textsemiotik als Ideologiekritik, Frankfurt 1977
23  vgl. Werner Koester, Die Unlesbarkeit des Films, in: Text Welt, Parabel Bd. 16, Giessen 1993.
24  Im „Project UnitÇ“ waren u.a. beteiligt: Fareed Armaly, Tom Burr, Clegg & Guttmann, Stephan Dillemuth, Mark Dion, Kate Ericson & Mel Ziegler, Thomas Locher, Christian Philipp Müller, Raymond Pettibon, Martha Rosler, Heimo Zobernig.
25  „white cube“ bezeichnet sterile, weiße, sich programmatisch durch Architektur und Lichtsysteme – neutral gebendeAusstellungsräume.

veröffentlicht in: Kontext Kunst,Ausstellungskatalog, Graz 1993, Hrsg. Peter Weibel