Während der Kölner Kunstmessen war die Frage, wie was gefallen hat, eigentlich nicht mehr mit ‚Entdeckungen‘ zu beantworten, sondern bestenfalls über eine Bestimmung der ‚Zusammenkunft‘. Die Differenz liegt zunächst darin, daß Einzelnes nicht des situativen Zusammenhangs entkleidet werden konnte. Statt Bewertungen und/oder Prognosen interessierten Beteiligungsmöglichkeiten. ‚Beteiligung‘ nicht als umgeleiteter ästhetischer Zugriff, sondern als Angebot für ‚Situationen‘. Konkret war diese Beobachtung festzumachen an den verschiedenen Präsentationen, die während der Kölner Messetage in den ‚Friesen-Räumen‘ stattfanden.In 6 Räumen, dazu die 3 Räume im Friesenwall, präsentierten sich Künstlergruppen, Zeitschriften und Aussteller, die im weitesten Sinne an der Strukturierung alternativer Produktions- und Distributionsformen arbeiten. Ob und welche Gemeinsamkeiten zwischen den mehr als 20 Gruppen bestehen, ist hier nicht auszudifferenzieren. Entscheidend ist zunächst die allen gemeinsame explizite Ausrichtung auf das Arbeiten in einem sozialen Umfeld, womit die Frage einhergeht, wie ’sozial‘ als Beschreibung künstlerischer Arbeit a
wendbar ist.
Angesichts der Friesen-Räume hat sich vorschnell die Formulierung Kunst als soziale Praxis gefunden. Damit ist die Gefahr eines Labels gegeben, daß einerseits nahtlos an ähnliche Begriffe aus den Kunstforum-Bänden der 70er und frühen 80er anknüpft („Kunst als sozialer Prozeß“, 1978; „Kunst im sozialen Kontext“, 1980) und zum anderen eine unklare andere Seite der Münze aufbaut. Ist die Rückseite von ’sozialer Praxis‘ ’soziale Theorie‘? Oder ‚ästhetische Theorie‘, oder ‚ästhetische Praxis‘? In jedem Fall schwingen Oppositionen mit, die wieder mitten in die Situation der Kunst in den 70ern führen. Ob Happening, Fluxus, Performance oder ’soziologische Kunst‘ – es war immer das Dilemma der entweder-oder-Positionen, die für oder gegen etwas entschieden, was meist Handlungsunfähigkeit nach sich zog.
II.
Eine Weile lang, in den Karriere-orientierten 1980ern, wurde die Formel ausgegeben, daß in den 1970ern die Ateliers geschlossen worden waren und die Künstler ihre Arbeit auf die Straße verlagert hatten. Was wahrscheinlich grundsätzlich nicht falsch ist, nur daß darin immer der Fakt eines Kunstproduktionsloches mitschwang. Als wären da zehn Jahre kunstgeschichtlicher Stillstand gewesen, in denen nichts entstand. Mit dieser Verharmlosung und Reduzierung auf Kunst = Produkt fallen die in den 70ern geleisteten, radikalen Zweifel am Werkbegriff, an Objekt- statt Situationsorientiertheit, mit aus der Diskussion. Die Tatsache der in den 1970ern maßgeblichen Suche nach kunstfernen Räumen steht dann, ohne diese Grundlagen-Angriffe, nur noch als formaler Griff da.
„Kommunikations-Objekte“ betitelte Wolf Schön 1973 seinen Text über künstlerische Arbeiten, die (so in der redaktionellen Vorbemerkung) „für sich gesehen noch keine Kunstwerke sind, sondern erst im Prozeß der Benutzung, des Gebrauchs außerhalb rein ästhetischer Betrachtung, zu solchen werden“(1). Die Positionierung von Kunst nimmt Wolf Schön folgendermaßen vor: „Was sie bauen, gleicht Trimmgeräten für den geistig und körperlich verfetteten Konsum-Bürger, und diese Trimmgeräte sind zugleich Apparaturen für eine neue Art von Grundlagenforschung, die bewußt a-wissenschaftlich ausgerichtet ist, weil auch die Wissenschaft längst im Gleichschritt der konsumorientierten Leistungsgesellschaft marschiert.“
Daran läßt sich der prinzipielle Unterschied zu den aktuellen Positionen der Kunst als soziale Praxis festmachen. Die Harmlosigkeit, die im Beschreibungskonstrukt ‚Trimmgeräte‘ enthalten ist, setzt sich in der bewußten Separierung fort – und genau das ist es, was jetzt zur Diskussion steht. Der Eigenauftrag aktueller Produktionen bedarf weder der Konsumkritik als Legitimation noch soll das Spezialistentum („a-wissenschaftlich“) bestärkt werden. Was heute „gebaut“ wird, ist immer auch Arbeit an der Herstellung von den Bedingungen, daß etwas entsteht. Und dieser Teil der künstlerischen Praxis ist es, der den Anspruch auf ‚Kommunikation‘ oder ’sozial‘ rechtfertigt.
III.
Die Utopie der 1970er Jahre war, daß Künstler als Auslöser und Anreger sozialer Prozesse, d.h. in außerästhetischer Realität, arbeiten. Damit entstand der Konflikt der Galeriekompatibilität: Läßt es das ideologische Reinheitsgebot zu, in systemimmanenten Strukturen zu arbeiten? Eine Frage, die allerdings heute noch (wieder?) gestellt wird. Zum einen als Forderung, die Distribution der Arbeiten selbst zu bestimmen. Zum anderen in Hinsicht auf Marktorientiertheit, d.h. die politische Dimension der Produktionen und Produktionsbedingungen. Eine Hinsicht, die in der Arbeit bzw. Struktur von „Büro Berlin“(2) maßgebend war. Statt Ausstellungen organisierte Büro Berlin ‚Situationen‘, d.h. 1. Ausstellungsorganisation im Selbstauftrag in kunstfernen Räumen; 2. Einbindung von Produktionsbedingungen als Teil künstlerischer Praxis; 3. Ortsbezogenheit; 4. Schaffen einer Situation, die zur „Kompatibilität aller gegenwärtig produzierten Kunstformen“(3) führt. Statt ‚Ausstellungsraum‘, ‚Teilnehmer‘ und ‚Veranstalter‘ wurden die Begriffe ‚Gästezimmer‘, ‚Gesellschaftsraum‘, ‚Gäste‘, ‚Gastgeber‘ eingesetzt – inklusiv der daraus folgenden (sozialen) Konsequenzen (Zusammenarbeit statt Arbeitsteilung etc.). Die Art der Produktion – z.B. wurden vorangegangene Ausstellungen in der Boeckhstraße immer wieder neu einbezogen – und Distribution war weder eine Entscheidung für noch gegen Marktorientierung, sondern die Überschreitung (markttechnisch) gezogener Grenzen, also das Schaffen eines Handlungsraumes. Daß dies in Hinsicht auf die Produktionsbedingugen, vor allem die Aufhebung der Trennung zwischen Ausstellungsorganisator und Aussteller, scheiterte (in der letzten Ausstellung, „Emotope“), ändert nichts an der Bedeutung, die dem Projekt „Büro Berlin“ zukommt.
IV.
Die Frage der Marktorientierung und darüber der Arbeit am Produktionsbegriff ist auch eine entscheidende Hinsicht, die in den Friesen-Räumen zur Sprache – zur Kritik – kam. Angesichts der extrem unterschiedlichen Gruppen, die teils seit Jahren bestehen („Selektion“/FfM, „Westwerk“/Hamburg) oder erst seit kurzem formiert sind („Botschaft e.V.“/Berlin, „Ring Club“/Düsseldorf), läßt sich das da nicht global abhandeln. „Selektion“ (Mainz/Frankfurt) z.B. ist eine Gruppe, die aus Wissenschaftlern und Künstlern besteht(4). Bekannt ist Selektion vor allem aus dem Zwischenbereich Industrial und Neue Musik(5).
Die Aktivitäten der Gruppe werden unter drei Sektionen angekündigt: Selektion Optik (seit 1984, hauptsächlich mit Fotokopierern arbeitend), Selektion Akustik (seit 1982, Musikkompilationen auf Tapes und CDs) und Selektion Theorie (seit 1992). Die verschiedenen Sektionen sind personell und projektmäßig nicht notwendig unterschieden(6). Während der „Interface“(7) in Hamburg z.B. führte Achim Wollscheid mit Joachim Pense ein ‚Arbeitsgespräch‘ als Workshop-Beitrag durch. Statt die Zeit mit einem Vortrag zu füllen, begannen beide ein neues Projekt zu besprechen – was bei den anwesenden Organisatoren auf etwas Unverständnis stieß, bei den anwesenden Musikhochschulstudenten jedoch zu konkreter Beteiligung führte.
Für alle Aktivitäten von Selektion gelten bestimmte grundsätzliche Ausrichtungen: die Arbeit in Kooperationen, der explizite Einbezug der Distributions- und Produktionsbedingungen als Teil der Arbeit und projektorientiertes (arbeitsteiliges) Vorgehen. Selektion Theorie z.B. bezieht die Sprache als künstlerisches Problemfeld mit ein – mit dem Symposium „Intermediäre Sprache“(8) wird versucht, eine die interdisziplinäre Arbeit tragende Sprache zu entwickeln.
Für die verschiedenen Arbeiten werden jeweils bestehende Strukturen benutzbar gemacht, der Hessische Rundfunk, eine Galerie, Kunstzeitschriften oder Musikfestivals. Die Oppositionen sozial/ästhetisch, Markt-/Alternativstruktur werden unerheblich gegenüber der Notwendigkeit, handlungsfähig zu bleiben. Und dazu gehört entscheidend die Möglichkeit, Einsicht in Funktionszusammenhänge zu erhalten – wie ‚Gesellschaft‘ funktioniert, vom bürokratischen bis zum Spezialisten-Alltag.
V.
Was ich hier mit ‚handlungsfähig‘ bezeichnet habe, ist vielleicht eben das, was zu dem Label Kunst als soziale Praxis führt. Denn der Bezug – zu Gesellschaft, Alltag etc. – ist in künstlerischen Arbeiten nicht über Themen gegeben, die vorgestellt werden. Es sind vielmehr die Produktions- und Distributionsweisen, in der künstlerische Erfahrungszusammenhänge verlassen werden und in alltägliche Erfahrungs- (und Arbeits-)räume eingegriffen wird. Statt erzählerischen, vor- oder darstellenden Bezügen sind es anschlußfähige Handlungsangebote, was sich auf die jeweilige Gruppe beziehen kann, auf die Organisationsstruktur und/oder direkt gesellschaftliche Bezüge. ‚Anschlussfähig‘ ist hier nicht im sozialtheoretischen Sinne zu verstehen (nach Habermas), also nicht als Integrationsbildung, sondern als Partizipationsangebot.
Entscheidend in der hier versuchten Beschreibungsweise künstlerischer Arbeiten, die soziale Handlung als basales Kriterium enthalten, ist die Beobachtung, daß ästhetische Eingriffe/Umformulierungen ohne gleichzeitigen Ausschluß außerkünstlerischer Bezüge entstehen – und umgekehrt. Damit entfällt auch das Reinheits-Dilemma, denn die Bezugsstrukturen können dann auch Institutionseinladungen ertragen. Was allerdings strikt herausfällt, ist die Frage nach der traditionellen ‚Qualität‘ – wenn es in dem herkömmlichen Sinn kein ‚Werk‘ mehr gibt, welchen Kriterien sollten dann gesetzt werden? Und nach Stringenz, denn „Botschaft e.V.“ (Berlin) oder „Sammlung Brinkmann“ (Düsseldorf) z.B. sind weniger ein Label für die Arbeit eines fest konzipierten Künstlerkollektivs als ein Platzhalter für Aktivitäten. In der „Sammlung Brinkmann“ bestimmt der jeweilige ‚Projektleiter‘ die Zusammensetzung der Projektgruppe. Das aktuelle Projekt gibt vielleicht ein deutliches Beispiel: „Tausend Gute Taten“ – eine Aufforderung an alle, die sich angesprochen fühlen, eine „gute Tat“ einzureichen. Woraus sich z.B. in Kürze ein andauerndes (Mailbox-)Gespräch über ‚Moral‘ entwickelt hat. „Tausend Gute Taten“ soll in einem Film eine abschließende Form erhalten.
VI.
Wenn soziale Zusammenhänge als Ordnungsmodell für künstlerische Praxis behauptet werden, dann ist das Schaffen von Handlungsräumen und die Organisation der Handlungsverhältnisse zunächst entscheidender als die Organisation ästhetischer Beziehungen. Was Niklas Luhmanns Feststellung widerspricht, daß in der Kunst als „geschlossenem System“ alles, also auch soziale Handlung, einem Reästhetisierungsprozeß unterworfen ist. Ich meine, daß selbstverständlich die ästhetische Dimension nicht ausgeschlossen werden kann, aber eben weder kontrapunktisch eingesetzt wird, noch mit dem traditionellen Höchstrelevanz-Anspruch auftritt. Was ja dann auch häufig zur Frage nach der Kunsthaftigkeit führt. Fehlende Kunsthaftigkeit – ohne diese dann allerdings näher bestimmen zu können – wird leicht als Verhinderungsmittel bestimmter Kunstproduktionen benutzt. Oder umgekehrt: Dieses entstehende Feld, erstmal definiert durch das Schaffen von alternativen Produktions- und Distributionsbedingungen, ist ja gerade eine Schnittstelle zwischen verschiedenen Gebieten. Dort treten z.B. auch Gruppen wie „Act Up“ oder „Paper Tiger“ auf, allerdings eher in einer Gastaufenthalts-Situation. Wird hier dann vorschnell mit dem Label Kunst als soziale Praxis hantiert, ist das m.E. ein Verfehlen der sich konstituierenden Öffnung ist. Benötigen solche hauptsächlich außerhalb des Kunstsystems agierenden Gruppen einen Kunst-Stempel? Mir scheint es eher, daß umgekehrt das Kunstsystem solche system-unspezifischen Aktivisten zur eigenen Umdefinierung benötigt. Benutzt. Die Feststellung einer „Ästhetisierung“ und „Reästhetisierung“ hält als Entschärfungswaffe her.
Nicht ausgeschlossen ist auch die Arbeit in institutionellen Kunst-Orten, die dann allerdings eine Funktionsveränderung erfordern. Nicht das Zur-Verfügung-Stellen eines Raumes ist gefragt, sondern die den Institutionen eigene Macht innerhalb bürokratischer Gefüge, die zur Durchsetzung von Projekten einsetztbar ist.
VII.
Der hier höchst unterschiedlichen Beispielen zugrundeliegende Grundschritt steht unter der Bedingung (verschiedener) politischer Vorgaben. Zur weiteren Erklärung müssen Arbeiten genannt werden, die außerhalb des anfangs aufgebauten Kontextes der „Friesen-Räume“ stehen.
Das zentrale Thema des Chicagoer Künstlers Dan Peterman ist Recycling. Im Winter 1988 bediente er sich der Gewohnheit der berittenen Chicagoer Polizei, den staatlichen Pferdemist zu entsorgen. „Chicago Compost Shelter“: Dan Peterman schüttete einen VW-Bus komplett mit dem Pferdemist zu, baute einen kleinen Eingang ins Innere und ließ die Fenster frei. Da der Mist beim Kompostieren Wärme freisetzt, heizte sich der Bus auf und wurde von Obdachlosen als Winterquartier – gefrorener Mist stinkt nicht – benutzt. In einer Institutionsausstellung benutzte er den gleichen Kompostierungsprozeß, um durchsichtige Plastikmöbel – dank des Pferdemist‘ – mit Gas zu füllen. Das durch die Benutzung entweichende Gas verbrennt in einer Gasflamme, die zugleich Licht spendet.
In einem anderen Projekt, „Setting Out/Setting Back“ (1990) baute Peterman Stühle aus Einkaufswagen, stellte die dann allerdings nicht Stiletto-like in feine Schaufenster, sondern auf einem freien Platz steht. Dort, an einen Baumstumpf gekettet, der zugleich als Tisch dient, ruhen sich jetzt Obdachlose auf ihrem Dosen-Einsammlungs-Runden aus – ihre mit Recyclingware gefüllten Einkaufswagen daneben parkend.
Ein letztes Beispiel ist das ‚Restaurant‘ „Underfood“, daß Peterman zusammen mit Joe Scanlan betreibt. Die Anführungsstriche sind deswegen notwendig, weil hier kein Ware-Geld-Tausch, sondern Ware-Ware-Tausch bzw. Recycling grundlegend ist. Je nach Jahreszeit werden Nahrungsmittel ‚recycelt‘, z.B. Thanksgiving die überall weggeworfenen Kürbisse oder der „Garbidgefish“ – ein durchaus nahrhafter und wohlschmeckender Fisch, der von den Fischern aber gewöhnlich ignoriert, d.h. gefangen und weggeworfen wird. Der Betrieb basiert darauf, daß Dinner und Getränke mit mitgebrachten Dingen ‚bezahlt‘ werden: mit alten Klamotten, Dosen, Leergutflaschen oder Büchern. Da der Raum vom nonprofit-recycling-Hof kostenlos zur Verfügung gestellt wird – ein Hinterraum in einem etwas abgelegenen Viertel – funktioniert dies Prinzip bereits seit mehr als einem Jahr.
Handlungsräume zu schaffen, die nicht auf Passivität ausgerichtet sind, auf Spektakel, sondern als Initial wirken, ist ebenso entscheidend für den Düsseldorfer Künstler Andreas Siekmann. Ausgangspunkt seines Projektes „1 aus 22“ ist das Panzerehrenmal in Potsdam, 150 m von Berlin entfernt. An diesem Denkmal kommen verschiedenste politische Vorgaben zusammen: Gebaut wurde es 1946 zur Erinnerung der Einnahme Berlins, also als Zeichen des ‚gelungenen‘ Kampfes gegen den Faschismus. Die Tafel, auf der die Namen der dabei gefallenen russischen Panzerbesatzung (der ‚ersten‘, die in Berlin eintraf) standen, ist im Laufe der Jahre abhanden gekommen. 1954 wurde das Denkmal 200m versetzt, auf DDR-Territorium; 1969 erneut, diesmal aufgrund des Autobahn-Ausbaus; 1991 wurde der Panzer demontiert.
Die 22jährige Geschichte dieses ‚Landschaftselements‘, denn als solches werden Denkmäler rezipiert, ist in höchstem Maße Spiegel der politischen Geschichte Deutschlands. Siekmanns Projekt sieht zum einen die Neuinstallierung der Tafel vor, zum anderen eine auf 22 Jahre angelegte, jährliche Ausschreibung und jährliche Installierung für den leeren Sockel. Das Rotationsprinzip ermöglicht eine permanente Auseinandersetzung mit dem Ort und der Geschichte Deutschlands. Die jedes Jahr neueingereichten Vorschläge sollen als Modelle in einem (noch zu bauenden) Ort neben dem Denkmal verbleiben. Siekmanns eigener Vorschlag sieht z.B. vor, einen LKW mit der Aufschrift „Bananen für Berlin“ zu installieren. Bis zur Wiedervereinigung belieferte eine Hamburger Speditionsfirma für Südfrüchte unter diesem Slogan West-Berlin.
Es ist ein Projekt, daß bei den Verantwortlichen auf großes Mißtrauen trifft, denn Siekmann hat hier weder „Stadtdrappierungen“ noch name-dropping vorgesehen. „Die Sockeldiskussion am richtigen Ort“ (Siekmann) ist dabei ein Punkt, ein anderer die Notwendigkeit, daß die Auseinandersetzung nicht durch name-hunting übergangen werden kann: Würden berühmte Namen wie Christo o.ä. eingeladen, käme sofort der kathartische Effekt: jede Konfrontation mit Fragen nach Kunst und Macht, nach der Funktion von Denkmälern, nach Geschichte und Politik, und auch nach ‚Kunstanspruch‘, würden ausgeschlossen. Es ist ja gerade die Brisanz des Ortes, die hier Kunst als Initial wirksam werden lassen kann.
VIII.
Diese Projekte von Peterman und Siekmann zeigen, wie wenig hilfreich traditionelle Trennungen angesichts sozial-intervenierender Kunst sind. Die Anfangs von W. Schön zitierten Abgrenzungen sind hier überschritten bzw. außer Kraft getreten. Da eine Überschreitung von Spezialistentum und Bereichstrennung vorrangig ist, die zur lange ausgeklammerten Frage nach der Funktion von Kunst führt, kann auch von einer ’sozialen Praxis‘, d.h. einer Ausschließung künstlerischer Überlegungen, nicht die Rede sein. Wenn es um eine Neustrukturierung von Produktions- und Distributionsbedingungen geht, hilft die Berührungsangst mit den Kunstwelt-Gebieten und den dort entwickelten Differenzierungen keineswegs weiter. Entscheidend ist hier, daß es nicht um die Auflösung der Differenzen, sondern um die Überschreitung geht.
IX.
Über einen derartig direkten Zugriff auf gesellschaftlich relevante Bereiche wie die Beispiel von Dan Petermann und Andreas Siekmann können die Friesen-Räume-Gruppen kaum beschrieben werden. Deren Aktivitäten basieren z.T. auf dem Aufbau einer in der Stadt wirksam werdenden Struktur, z.B. der Düsseldorfer „Ring Club“ oder „Botschaft e.V.“ (Berlin).
Der Ring Club organisierte letztes Jahr „Makro-Ville„: der Bau einer Stadt in Modellgröße, auf einem 10x10m großen Tisch. Hügel, Fluß, Ebene, Strand – „die Landschaft entspricht unserem Bild einer gut zu bebauenden Landschaft“. Geplant war nicht eine utopische Stadt, die auf Verbesserung und Erneuerung abzielt, sondern eine ‚Ausstellung‘. Wie im richtigen Leben, aber als Spiel, entschied der ‚Stadtrat‘ über Gemeinnützigkeit und verkaufte die Bauerlaubnis (Maßstab 1:1000, qm-Preis 5-20 Pfennig). Prinzipiell war jeder zugelassen. Über 100 beteiligten sich. Die Kaufnotwendigkeit war Voraussetzung, um das Projekt ohne Sponsorenhilfen durchzuführen. Gleichzeitig hat es aber auch die Grundstruktur festgelegt: Privateigentum. Darüber, nicht über die üblichen Ausstellungsort-Konflikte, regelten sich Nachbarschaften – und ersetzte sich auch jede Erklärungsnotwendigkeit. Bezahlt = gebaut, z.B. mehrere Kirchen(!), ein Brunnen aus Suppentellern, ein Frauengefängnis(!), ein Sumpf, ein Schiff, 4 Sozialwohnungstürme, Hotelhochbauten, etc. – Düsseldorf-typisch wurden Auseinandersetzungen mit gesellschafts-politischem Alltag skulptural und Einzelwerk-orientiert umgangen. Herausfielen da etwas die ‚Spenden‘ der Sammlung Brinkmann: 1000 Müllsäcke, 400 öffentliche Steckdosen, 7 Barrikaden, 27 Rollstuhlrampen, 28 Froschleichtunnel – und 1000 Polizisten.
Wie sehr auch die Umsetzung fern von urbanistischen oder politischen Überlegungen zu kritisieren ist, wichtig bleibt, daß am Rand des Modelltisches eine reale Gemeinschaft entstand. Trotz zunehmender Teilnehmerzahl führte das nicht zu Verengungen der Möglichkeiten, sondern zu steigender sozialer Verständigung (erleichtert durch die kapitalistische Grundstruktur?). Die Stadtwirklichkeit von Makro-Ville ist auf der Tischplatte harmlostestes Kunstobjekt gewesen; entscheidend waren die sich daraus und darum ergebenden Sozialstrukturen und Gespräche zum Projekt. In diesem Jahr wird der Ring Club die Friesen-Räume-Idee weiterführen und internationale Gruppierungen zur „Internationale Fachmesse“ einladen.
Derartige künstlerische Arbeiten ziehen die Notwendigkeit des Nachdenkens über Dokumentationsweisen (z.B.: für welche Öffentlichkeit?) mit sich – im Sinne von Repräsentation, aber auch, wie überhaupt noch mit Dokumentationen zu arbeiten ist. Die Berliner ‚Botschaft e.V.‘ stellte diese Fragen anhand mehrerer Projekte letztes Jahr. Was ich immer wieder als veränderte Produktionspraxis angesprochen habe, ist daran zu konkretisieren. Denn ‚ausstellen‘ bedeutet mehr als nur das Zur-Verfügung-Stellen von Wand- und Bodenfläche für Kunstwerkproduktionen. In den Räumen der Botschaft („Friseur“, mit integrierter Bar und kleinem ‚Kino‘) fand z.B. 1992 das Seminar plus Rahmenprogramm „Fishing for Documents“ statt. Eingeladen waren mehrere Dokumentarfilmer (Shelly Silver, Juliet Bashore, Harry Rag u.a.), anhand deren Arbeit der Begriff bzw. die Wertigkeit des „Dokumentarischen“ überprüft wurde. In dem späteren Projekt „Museum für Geschichte“(9) wurde ‚Dokumentarisches‘ in einen Geschichtszusammenhang gestellt. Die 6 (aufeinanderfolgenden) Ausstellungen, z.B. die Geschichte der Science Fiction in Rußland, sind in einem Katalog ‚dokumentiert‘ – der als Botschaft-Beitrag der Geschichte der Ausstellung folgte.
‚Botschaft e.V.‘ arbeitet in einer offenen Struktur, d.h. daß nicht nur die Gruppe Projekte initiiert, sondern oft ‚Gäste‘ dort arbeiten. Die Gruppe selbst setzt sich aus Filmern, Gestaltern, einem Informatiker und Künstlern zusammen. Die Frage nach dem ‚Dokumentarischen‘, verstanden als Aussage von Anderen, bestimmt also auf mehreren Ebenen die Produktionsstruktur. Auch als Frage nach den verwendeten ‚Mitteln‘, z.B. im (anstehenden) Projekt „E-Smog“(10). ‚Elektrosmog‘ bezeichnet durch elektromagnetische Strömungen (Bildschirme, Mobiltelefone etc.) auftretende Störungen bei Menschen und Maschinen – ein immer brisanter werdendes Thema.
X.
Die anfangs ungenau angesprochenen ‚alternativen Produktions- und Distributionsweisen‚ können jetzt zusammenfassend konkretisiert werden: Angegangen wird keine tabula rasa-Situation, keine an den Dogmatismus der 70er Jahre anschließende Umwälzung in ideologisch sauberem Feld. Statt Konsensorientiertheit entsteht eine Dissens-Struktur. Über das Öffnen von Handlungsräumen werden Gebietsgrenzen überschritten, die als Gesten handlungswirksamen Charakter haben. Diese Übergänge sind dann vielleicht auch der gesamte Raum, in dem agiert werden kann, denn Peterman kann das Recyclen nicht überall einführen, die Welt nicht verbessern, Siekmann den Diskurs über Denkmäler, über Kunst und Gesellschaft, nicht übernehmen, der Ring Club nicht die Separierung der Kunst aus dem Alltag aufheben usw.
‚Alternativ‘, d.h. vor allem selbstbestimmt und handlungsfähig, d.h. auf der Kommunikationsebene nicht ein Herstellen der Verständigung, sondern die Arbeit an den Bedingungen dafür. Wenn statt des Konsens-Modells eine Ausrichtung auf Dissens erfolgt, wird sich auf Dauer auch eine Veränderung des kollektiv Geltenden (was bei der Frage nach Kunsthaftigkeit z.B. immer reinspielt, bis hin zum Vorwurf von Dilettantismus) einstellen. Bei dem zu beobachtenden Verständigungsloch – vor allem bei Kunstinstitutionen und beim Gang durch Zulassungs-Behörden – wird dann eine Form von ‚koordiniertem Dissens‘ im Hinblick auf die projektierten sozialen und künstlerischen Handlungen nötig: vor allem eine prinzipielle Verständigung über die Differenzen.
veröffentlicht in: ARTIS, Juni 1993
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(1) Kunstforum, 1/1973
(2) Büro Berlin wurde 1978 von 7 Künstlern gegründet; die letzte große, von Büro Berlin organisierte Ausstellung – „Emotope“ – fand 1985 statt.
(3) Wolfgang Siano, Katalog Büro Berlin, 1986
(4) u.a. arbeiten mit: Joachim Pense, Achim Wollscheid, Gilla Lörcher, Charly Steiger, Markus Caspers, Horst Maus; die Berufe reichen von Mathematiker über Jurist, Graphiker bis zu Künstler.
(5) SELEKTION partizipierte an solchen Gemeinschaftsarbeiten anfangs unter „P16/D4“, seit 1985 unter „LLL und „S.B.O.T.H.I.“.
(6) Unter dem Namen „SLP“ z.B. fanden mehrere Gemeinschaftsprojekte der verschiedenen Sektionen statt.
(7) Symposium „Bildwelten Weltbilder“ im Februar 1993, in der Musikhochschule Hamburg (8) „Intermediäre Sprache“, 24., 25.4.1993, Frankfurt
(9) kuratiert von Harald Fricke
(10) im Rahmen von Botschaft unter Leitung von Pit Schulz, wo z.B. ein Meteologe mitarbeitet