Künstlernachlass: Werft nichts weg!

11. Apr. 2023 in Kunstmarkt

Helga Philipp, Objekt O9b (foil), 1963, Kinetisches Objekt. Courtesy Gallery 10 A.M.

Was tun mit einem Künstlernachlass? Wo gibt es Hilfen, wer kann beraten, was muss bedacht werden?

Ende März wollte Peter Weibel seinen Posten als Direktor des ZKM in Karlsruhe verlassen und sich in Wien wieder ganz seiner künstlerischen Arbeit widmen. Dazu kam es nicht. Er verstarb am 1. März. Zwei Wochen vorher kaufte das ZKM zehn seiner großen Medienkunstwerke und einen Teile seines Archivs. Was aber passiert jetzt mit seinem restlichen Werk? Wie werden seine 120.000 Bücher, seine Korrespondenzen, Skizzen und Notizen, seine Fotografien, Bilder, Skulpturen und Multimedia-Installationen verwaltet? Gerade solch ein  dokumentarischer Nachlass aus dem beruflichen Alltag ist heute gefragtes Quellenmaterial kunstwissenschaftlicher Forschung. Wie und wo können die Installationen gelagert werden? Noch ist Weibels Testament nicht eröffnet. Aber wie schwierig dieses Aspekt werden kann, zeigt der Fall von Julia Frank-Avramidis. Die Tochter des 2016 verstorbenen Bildhauers Joannis Avramidis liegt seit einigen Jahren im Rechtsstreit mit dem Bund über die Räumung des Praterateliers. Eigentlich nur auf Lebenszeit des Künstlers vermietet, lagern dort bis heute die Skulpturen aus dem Künstlernachlass ihres Vaters. Aber nicht nur solche pragmatischen Fragen müssen im Fall eines Nachlasses geklärt werden. Dazu kommt der Blick in die Zukunft: Wie kann der Ruhm der Verstorbenen über die Zeit erhalten, möglichst sogar vermehrt werden?

Exhibition „Rediscovering Helga Philipp. Op Art in Austria“, 10 A.M. ART, Milan, 2023

In Deutschland gibt es in nahezu jedem Bundesland private Vereine, die zu solchen Fragen Unterstützung anbieten. In Österreich gibt es keine einzige Anlaufstelle für Künstlernachlässe. Studium, Berufseinstieg, Ausstellungen werden staatlich gefördert. Mit dem Ableben endet das Staatsinteresse. Auch können weder Museen noch Auktionshäuser bei allgemeinen Fragen weiterhelfen. Dabei ist die Frage eines Nachlass vom zunehmender kultureller Bedeutung. Denn im 20. Jahrhundert wurde so viel Kunst produziert wie nie zuvor. Sucht man jetzt nach Werken unter verändertem Blickwinkel wie beispielsweise mit Fokus auf Kunst von Frauen, endet die Suche oft in derselben traurigen Sackgasse: Der Künstlernachlass ist unauffindbar. Nicht einmal eine Datenbank zunächst marginal erscheinender Nachlässe existiert. Damit geht ein wichtiger Teil des kulturellen Gedächtnisses verloren. Manche Künstler wollen da vorsorgen wie etwa Ingeborg Strobl. Sie starb 2017 und vermachte ihr Archiv mit Werken und Drucken dem MUMOK. Die zeigten es auch 2020 in einer großen Ausstellung. Allerdings geht mit dieser Schenkung ein Klumpenrisiko einher, es droht seither in den Tiefen des Museumslagers zu verschwinden. Um Bedeutungsverlust zu verhindern, braucht es eine Partnerschaft mit kommerziellen, international vernetzten Galerien. Denn erst über posthume Einzel- und Gruppenausstellungen, Messeauftritte, Auktionsverkäufe und auch Verkäufe in Privatsammlungen kann ein Werk weiterhin weitreichend in die Kulturgeschichte verwoben bleiben. Das zeigt gerade die Ausstellung von Helga Philipp in der Mailänder Galerie 10 A.M. Dort sind 17 wichtige Werke aus dem Nachlass der 1939 geborenen, 2002 verstorbenen Wiener Künstlerin bis Ende April in einer umfassenden Personale unter dem Titel „Die Wiederentdeckung von Helga Philipp. Op Art in Austria“ präsentiert, wodurch ihr Werk jetzt mit den italienischen Avantgarden neu kontextualisiert wird. Philipp gehörte in den 1960er Jahren zu den wichtigsten Künstlerinnen der konstruktiv-geometrischen Kunst, mit überlagerten Rechtecken lässt sie optische Täuschungen entstehen. Heute sehen wir in ihrem Werk erste Ansätze der Minimal Art, im italienischen Kontext auch der Raumkunst.

Anna
Andreeva
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Les
Fleurs
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2023,
Installation
view,
Layr
Singerstraße
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Vienna
Courtesy
of
the
Estate
of
Anna
Andreeva
and
Layr,
Vienna

Anna Andreeva, Les Fleurs, 2023, Installation view, Layr Singerstraße, Vienna. Courtesy of the Estate of Anna Andreeva and Layr, Vienna

Grundlage solcher Ausstellungen sind Verträge, die Verkaufs- und Vermittlungsrechte mit den Erben regeln. Mit der Enkelin von Anna Andreeva vereinbarte gerade der Wiener Galerist Emanuel Layr die Nachlassvertretung. 1917 geboren, 2008 verstorben, entwarf Andreeva von 1946 bis 1984 als führende Designerin hunderte geometrische Muster für die staatliche russische Textilfabrik Red Rose Silk Factory. Ihre Entwürfe sind vom russischen Konstruktivismus geprägt, mit ihren Abstraktionen widersetzte sie sich der staatlichen Doktrin des Sozialistischen Realismus. Manche ihrer von der Kybernetik inspirierten Ornamente erinnern mit den geometrischen Kubenmustern an die in Russland gebannte OP-Art. Mit der aktuellen Galerieausstellung, die noch bis Mitte Mai läuft, werden ihre Textilien jetzt als Weiterführung der russischen Moderne und als autonome Kunstwerke positioniert.

Ausstellung »respektive Peter Weibel«, September 2019 – 07. März 2020, ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe. Copy Right Peter Weibel

Voraussetzung solcher Geschäftsvereinbarungen ist ein zentraler Rat an die Erben: Werft nichts weg! Und klärt zunächst vier wichtige Fragen: Wie soll das Erbe verwaltet werden, privat oder als Stiftung? Wer soll es verwalten, eine dritte Partei, die Familie, ein Beratungsgremium? Welche Ziele sollen erreicht werden und wie kann die Archivierung finanziert werden? Was sind die eigenen Instrumente für einen Künstlernachlass? Existiert bereits ein Werkverzeichnis, braucht es eine Beglaubigungskommission, wie arbeite ich mit dem Kunstmarkt zusammen? Diese Fragen werden heuer im September in einem dreitätigen Workshop auf Schlossgut Schwante bearbeitet, ausgerichtet von Loretta Würtenberger. Sie ist auch zusammen mit Karl von Trott Herausgeber des 2016 erschienen Handbuchs „Der Künstlernachlass“ – ein Ratgeber, der für Adrian Kowanz nach dem Tod seiner Mutter Brigitte Kowanz im Januar 2022 sehr hilfreich war, wie er im Gespräch erzählt. Der studierte Kunsthistoriker verwaltet den Nachlass momentan in Vollzeit, was er als „Privileg“ sieht. Dazu gehören Inventarisierung, Pflege des Werkbestands, technischer Support der oft aufwendig zu installierenden Licht-Skulpturen, Bearbeitung von Werk-, Bild- und Textanfragen. Aber auch das Schaffen eines Umfelds für wissenschaftliche Fragen. Gerade fand an der Universität für Angewandte Kunst das zweitägige Symposium „Beyond Words“ zu ihrem Werk statt, das Kowanz´ Werk im Spannungsfeld von Physik und Kybernetik untersuchte. Eine Nachlassverwaltung sei eine ständige Herausforderung, betont er: „Allein ist das nicht zu schaffen.“ Vielleicht wäre es ja an der Zeit, zumindest für die ersten Schritte ein staatliches Kompetenzzentrum für Künstlernachlässe zu gründen?

veröffentlicht in: Die Presse, 2.4.2023